Archiv 2012 „Netz-Verfassung”
„Vielleicht brauchen wir erst eine Katastrophe!“
lpr-forum-medienzukunft 2012 zum Thema „Netz-Verfassung“ am 19. April in Frankfurt
Frankfurt am Main, 19. April 2012
Manchmal endet die oft beschworene Freiheit im Internet schon beim Facebook-Eintrag. Da stellen Nutzer überrascht fest, dass sie die Rechte an den eigenen Profil-Inhalten automatisch an den Community-Betreiber abgetreten haben oder Inhalte von Facebook – wie beispielsweise bei Mitgliedern der Occupy-Bewegung – blockiert werden. Die Freiheit im weltweiten Datennetz ist also nicht nur dort bedroht, wo – wie in China oder Saudi Arabien – Inhalte staatlich gefiltert werden. Beim lpr-forum-medienzukunft diskutierten Wissenschaftler und Politiker am 19. April in Frankfurt darüber, wie für die Online-Welt ein freier Zugang zu Informationen und Meinungsfreiheit gewährleistet werden können. Die Freiheit im World Wide Web sei gefährdet, waren sich die Experten einig.
Der Internet-Regulierungsexperte Viktor Mayer-Schönberger machte deutlich, dass bisher alle Versuche gescheitert sind, eine „moderne, grundrechtsgebundene Verfassung für das Internet“ zu schaffen. Beim Zukunftsforum der Hessischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien (LPR Hessen) forderte der Professor für Internet Governance und Regulierung des Oxford Internet Institute gleich zweierlei: Einerseits müsse die Internet Corporation für Assigned Names and Numbers (ICANN), die vor allem für die Domain-Vergabe zuständig sei, gestärkt und vor zu großen nationalstaatlichen Einflüssen etwa der USA oder der aufstrebenden BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) geschützt werden. Andererseits benötige das Internet dringend eine weltweit gültige Verfassung. Nur so könne dem Machtgefälle zwischen großen Konzernen oder autokratischen Regimen auf der einen und den Nutzern auf der anderen Seite entgegengewirkt werden.
Auch der Direktor der LPR Hessen, Wolfgang Thaenert, mahnte internationale Vereinbarungen für Online-Mindeststandards an, gepaart mit mehr Transparenz, mehr Rechten für Nutzer und mit einem besseren Datenschutz. Jan Philipp Albrecht, der für Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament sitzt, schlug eine Art Bill of Rights vor, mit der international Rechte und Grenzen für das Verhalten im Internet festgeschrieben werden müssten. Pascal Schumacher, Mitarbeiter am Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, warnte hingegen vor zu großen Entwürfen. Der Versuch einer Weltinformationsordnung sei bislang immer gescheitert. Zunächst gelte es, mit einem internationalen Multi-Stakeholder-Ansatz möglichst viele Beteiligte aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft einzubinden, um übergreifende Grundwerte zu identifizieren. Ähnlich argumentierte auch Annette Mühlberg. Die Leiterin des Referates eGovernment und Neue Medien beim ver.di Bundesvorstand sagte, zunächst gehe es um einen „Kompetenzsteigerungsprozess“. Das Wort Internet-Verfassung sei ein sehr großer Begriff, zweifelte Mühlberg am Erfolg solcher Vorhaben. Zunächst einmal gehe es noch um die Sicherung der globalen Infrastruktur, wandte Mühlberg ein, die auch Sachverständige der Enquete-Kommission des Bundestages ‚Internet und Digitale Gesellschaft‘ ist. Unter anderem müsse verhindert werden, dass ein US-Unternehmen wie VeriSign, das die Top-Level-Domains .com, .net und .name betreibt, sich mit seiner Forderung durchsetze, einzelne Websites abschalten zu dürfen.
Der Bundestagsabgeordnete Peter Tauber (CDU) identifizierte ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu einer global gültigen Magna Charta der Internetfreiheit. So werde eine internationale Verständigung durch unterschiedliche Kulturkreise erschwert. Bei einem Gespräch mit chinesischen Studenten habe er beispielsweise erfahren müssen, dass die Online-Zensur in deren Heimat von vielen als solche gar nicht wahrgenommen wird. Vielmehr würden Chinesen davon ausgehen, der Staat müsse ihnen mit der Filterung von Internetinhalten dabei helfen, die für ihre Entwicklung wesentlichen Informationen auszuwählen. Was unter Informations- und Meinungsfreiheit verstanden werden soll, lässt sich also transnational kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Tauber, der Mitglied der Enquete-Kommission ‚Internet und Digitale Ge-sellschaft‘ ist, wies außerdem darauf hin, dass universell geltende Regeln auch deshalb problematisch seien, weil sich selbst national Grundwerte kontinuierlich durch unseren täglichen Umgang mit dem World Wide Web verändern.
Außer undemokratischen Staatsführungen bedrohen vor allem die großen Internetkonzerne die Freiheit im World Wide Web. Dass deren Macht wächst, wird bei einem Blick auf aktuelle Nut-zungszahlen deutlich: Allein auf Facebook und Google entfallen weltweit etwa siebzig Prozent des gesamten Datenverkehrs. Jan Philipp Albrecht analysierte, die großen Online-Konzerne machten sich unabhängig von staatlichen Strukturen und von Regulierung. Konzerne wie Facebook, Google, Apple und Amazon profitierten im Internet von einem Mangel an transnationalen Regeln. Umso schwieriger sei es nun, etwa für den Datenschutz sichere Regulierungsstandards durchzusetzen.
Zu einem ähnlichen Urteil wie Albrecht, Mayer-Schönberger und Mühlberg kam auch Götz Hamann. Der stellvertretende Ressortleiter Wirtschaft der Wochenzeitung Die Zeit kritisierte, die Politik verhalte sich bei der Online-Regulierung zu passiv. Das zeige sich in Deutschland etwa in den Bereichen Netzneutralität, Daten- oder Jugendschutz. Hamann forderte für den Online-Sektor ein „funktionierendes Völkervertragsrecht“. Vorbild könne dabei die Umweltpolitik sein. „Vielleicht brauchen wir erst eine Katastrophe!“, warnte Hamann und verwies darauf, dass beim Umweltschutz Skandale wie die Desaster von Tschernobyl, Sandoz oder Bophal zu einem Umdenken geführt hätten. Der Autor des Buches „Zeitbombe Internet“ zog am Ende der Tagung zwei Schlussfolgerungen: Erstens müsse die Politik dringend einen Diskurs-Rahmen – etwa in Form von Liquid-Democracy-Software – schaffen, um die Grundwerte unserer digitalen Gesellschaft kontinuierlich fortzuentwickeln. Zweitens müssten für das Internet verbindliche Regeln entwickelt werden. „Die Politik muss handeln“, lautete Hamanns kategorischer Imperativ.
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