Wahlkampf 2.0: Über Chancen und Risiken
lpr-forum-medienzukunft 2013 zum Thema „Wähler im Netz“ am 7. März in Frankfurt
Frankfurt am Main, 7. März 2013
200 Tage vor der Bundestagswahl arbeiten in Deutschland Politiker und Parteien daran, neue Online-Strategien für den Wahlkampf zu entwickeln. Das ständige Wachstum der Internetgemeinde eröffnet neue Möglichkeiten der politischen Kommunikation. Drei von vier Bundesbürgern nutzen das World Wide Web regelmäßig. Bereits bei der Bundestagswahl 2009 surften 18 Prozent der Wähler im weltweiten Datennetz, bevor sie ihre Wahlentscheidung trafen. In der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen gaben sogar 47 Prozent an, sie hätten das Internet als Informationsquelle genutzt. Seitdem ist die Bedeutung von digitalen Medien weiter gestiegen. Beim lpr-forum-medienzukunft loteten Politiker, Wissenschaftler und Wahlexperten Chancen und Risiken aus, die mit dem Wahlkampf 2.0 verbunden sind.
Benedikt Köhler, der bei der Marktforschungsagentur d.core den Bereich Data & Innovation leitet, machte bei der Tagung in Frankfurt darauf aufmerksam, dass von den vier Millionen Erstwählern, die sich am 22. September an der Bundestagswahl beteiligen dürfen, etwa die Hälfte über klassische Medien praktisch nicht mehr erreichbar seien, weil sie sich nahezu ausschließlich online informierten. Wolfgang Thaenert, Direktor der gastgebenden Hessischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien (LPR Hessen), verwies darauf, der steigende Anteil der Nichtwähler steige vor allem bei der jüngeren Generation kontinuierlich. Wie aber lassen sich möglichst viele Netz-Bürger im Internet so ansprechen, dass die weit verbreitete Wahlmüdigkeit sinkt? Das Rezept zur (Re-)Vitalisierung des Politischen im Online-Zeitalter scheint auf den ersten Blick einfach: Die Politik muss Angebote nutzen, die sich im Internet besonders großer Beliebtheit erfreuen.
Der Politikwissenschaftler Christoph Bieber, der sich an der Universität Duisburg-Essen mit WWW-Wahlkämpfen auseinandersetzt, verwies in diesem Zusammenhang vor allem auf Bewegtbildangebote (Videos) und soziale Online-Netzwerke (Facebook, Twitter).
Dass es Politikern zuweilen noch schwer fällt, sich mit der Allways-Online-Mentalität ihrer Wähler anzufreunden, gab Michael Boddenberg unumwunden zu. Der Hessische Minister für Bun-desangelegenheiten und Bevollmächtigte des Landes beim Bund, bezeichnete sich selbst als einen „Dinosaurier“, dem die Zeit für das Erstellen von Social-Media-Inhalten fehle. Der hessische Bundestagsabgeordnete Björn Sänger hingegen setzt auf Facebook und Twitter, weiß aber um die Folgen: „Wenn man das macht, muss man es selbst machen, sonst merken das die Menschen“, wies der FDP-Parlamentarier auf den großen Aufwand hin, den moderne Web-2.0-Anwendungen inklusive Video-Interviews erfordern. Sänger sprach von einem „Tamagotchi-Effekt“, der zur ständigen Pflege von Internetinhalten zwinge.
Gregor Hackmack, einer der Gründer von Abgeordnetenwatch.de, gab zu bedenken, die Akti-vitäten von Politikern in sozialen Netzwerken dürften nicht automatisch mit Transparenz gleich-gesetzt werden, weil viele dieser Inhalte vor allem Public Relations seien.
Dass vom Internet keine Wunderwirkungen in Bezug auf die politische Kommunikation einer digitalen Demokratie erwartet werden dürfen, schränkte auch Yvonne Schroth ein. Das Vorstandsmitglied der Forschungsgruppe Wahlen berichtete, beispielsweise hätten sich im vierten Quartal 2012 nur 41 Prozent der Deutschen online über Politik informiert, vor allem jüngere, gut ausgebildete Nutzer mit meist hohem sozioökonomischen Status.
Der Rechtswissenschaftler Franz C. Mayer von der Universität Bielefeld warnte gar vor einer „digitalen Schein-Demokratie“, deren „Netzuntertanen“ angesichts der Informationsfluten schnell an Souveränität verlieren könnten. Dass vieles von dem, was online wie Transparenz und Partizipation wirkt, vor allem ein Instrument kluger Wahlkampfstrategen ist, wurde an Obamas Kampagnen in den USA deutlich. Dort diente das Internet nicht nur als Kommunikationsplattform, sondern auch als Instrument zur Rekrutierung von Wahlkampfhelfern, zur Sammlung von Spenden und vor allem als gigantische Datenbank.
Der Sozialforscher und Datenspezialist Köhler erläuterte beim lpr-forum-medienzukunft, wie Obamas Wahlkampfteam mithilfe digitaler Telemetrie und Datenanalyse Kapital aus einer riesigen Datenmenge (Big Data) schlagen konnten: So kontaktierten die Demokraten nur solche Haushalte persönlich, in denen man Unterstützer vermutete oder Wechselwähler, die noch auf die Seite Obamas gezogen werden sollten.
In der Diskussion wurde schnell klar, wo die Grenzen virtueller politischer Kommunikation liegen. So räumten die Experten Yvonne Schroth und Christoph Bieber ein, echte Dialoge fänden bei Online-Wahlkämpfen kaum statt. Es komme nicht auf Dialoge, sondern auf Mehrheiten an, argumentierte Köhler. Den zentralen Vorteil, den Politiker in Online-Kommunikationskanälen sehen, brachte Björn Sänger wie folgt auf den Punkt: „Zwischen mir und dem Empfänger ist niemand mehr dazwischen.“ Das heißt aber auch: Es fehlen Instanzen, die kritisch beleuchten, hinterfragen, interpretieren, Hintergründe liefern oder zur besseren Orientierung auch auf konträre Positionen verweisen.
Der Verfassungsrechtler Mayer warnte deshalb vor „Kollateralschäden“, die entstehen könnten, wenn das Internet die klassischen Medien verdränge.
Was im World Wide Web geschieht, entzieht sich nahezu jeglicher Regulierung. Dass damit nicht nur eine Erweiterung des politischen Raumes verbunden sein kann, machte der Medienrechtler Bernd Holznagel von der Universität in Münster deutlich. Weil die Online-Angebote von Parteien und Kandidaten keinerlei Regeln unterworfen seien, fehle es an Transparenz. So könnten etwa die PR-Abteilungen den Stellenwert von Facebook-Inhalten manipulieren, indem Followers gekauft würden. In vielen sozialen Netzwerken ließe sich außerdem auch anonym Stimmung machen.
Wie wichtig ein Transparenzgebot für politische Online-Kampagnen ist, machte Holznagel am Beispiel des PeerBlogs deutlich. Der inzwischen stillgelegte Blog, mit dem ungenannte Sponso-ren den SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück unterstützen wollten, war in den Verdacht verdeckter Parteienfinanzierung geraten. Holznagel empfahl für solche Fälle hinsichtlich der Geldgeber eine Anzeigepflicht und Obergrenzen, wie sie zur Herstellung von Transparenz für Parteispenden gelten. Darüber hinaus müsse geprüft werden, ob bei virtuellen Wahlkämpfen nicht die Landesmedienanstalten oder ihnen angegliederte Stiftungen eine Art „Wächter-Funktion“ übernehmen könnten.
Weitere Informationen unter: www.lpr-forum-medienzukunft.de
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