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Ausblick
*Die digitale Moderne**
Über den Strukturwandel in Medien und Journalismus
Dr. Leif Kramp, Forschungskoordinator ZeMKI, Universität Bremen

Die digitale Moderne! Wir haben dieses Buzzword heute schon mehrmals gehört. Natürlich ist „Digitale Moderne“ auch ein plakativer Begriff, besonders mit Blick auf den Innovationshunger der Medienwelt, und doch steckt viel mehr dahinter: eine folgenreiche Diagnose nicht nur für den Journalismus, sondern auch für Kultur und Gesellschaft. Die digitale Moderne bleibt nicht nur eine Behauptung, wenn wir ihre Bedeutung festmachen an einigen Aspekten, die sich förmlich aufdrängen, wenn wir uns mit den rasanten Veränderungen in Medien und Journalismus beschäftigen: Wir beobachten zur Zeit in erster Linie einen Strukturwandel, der die massenmediale Öffentlichkeit nach und nach fragmentiert und den Journalismus unter veränderte Vorbedingungen stellt – mit Folgen, denen nicht so einfach zu begegnen ist. Häufig ist von einem erforderlichen Umdenken die Rede, von einem dringend nötigen Mentalitätswandel im Journalismus selbst und in dem Geschäft mit Nachrichten, sowie von einem Ungleichgewicht zwischen Sparmaßnahmen und Investitionen in die Absicherung journalistischer Qualität.

Der Wandel wird – wie bei vielen alten Industrien – auch im Nachrichtenwesen getrieben von der Geschäftspolitik der Medienunternehmen, allen voran der Presseverlage: Wir sehen in Deutschland ein immer noch starkes, relativ stabiles Feld an massenmedialen Organisationen, die Journalismus als Produkt vertreiben, aber auch begonnen haben ihr Portfolio zu diversifizieren und als Multiplattformunternehmen in neue Geschäftsfelder vorzudringen, die nicht immer mit Journalismus in direkter Verbindung stehen. Obwohl sich schon seit einigen Jahren ein scheinbar unaufhaltsamer, wenn auch leichter Abwärtstrend in der Auflagenentwicklung der Print-Erzeugnisse und den Erlösen aus dem Anzeigengeschäft abzeichnet, scheint es, als würde die systematische Planung von Change Prozessen in vielen Zeitungshäusern noch immer auf die leichte Schulter genommen. Bislang fielen eher unabhängige Projekte und Initiativen von freischaffend tätigen Journalistinnen und Journalisten als besonders innovativ auf denn solche von etablierten Redaktionen. Doch obwohl es mittlerweile einige hoffnungsfrohe und auch finanziell gewichtige Start-ups gibt – wie die Community finanzierten Krautreporter oder das Redaktionsbüro CORRECT!V mit seinem gemeinnützigen Ansatz – ist weithin unklar, wie und wohin sich die Branche und der Journalismus als Beruf und kulturelle Praxis insgesamt entwickeln.

„Spieglein, Spieglein an der Wand“
Wolfgang Büchner war für etwa 15 Monate Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel und Spiegel Online – bis Ende vergangenen Jahres. Als das Foto, das Sie hier sehen, geschossen wurde, befand er sich – noch in Amt und Würden – in einer intensiven Diskussion mit Promovenden aus über 20 Ländern Europas über die Zukunftsstrategie des Spiegel. Einige Wochen später scheiterte sein Konzept Spiegel 3.0: Die Mauer an Innovationshemmungen, die auch anderswo mühsam abgetragen wird, zum Beispiel beim Schweizer Radio und Fernsehen, wie uns Sylke Gruhnwald berichtet hat, konnte in Hamburg also noch nicht problemlos überwunden werden. So betrifft die Metapher des „Spieglein, Spieglein an der Wand“ die gesamte Nachrichtenbranche, die ratlos darüber grübelt, was auf sie zukommt und wie sie systematisch wie konstruktiv ihren Problemen entgegentreten kann. Natürlich ist der Spiegel noch weit davon entfernt, wirtschaftlich sprichwörtlich ‚an der Wand’ zu stehen: Spiegel und Spiegel Online geht es finanziell gut, und vor allem Spiegel Online nimmt im Verlag, aber auch darüber hinaus nicht selten die Rolle eines Innovationstreibers wahr. Dennoch zeigt dieses Beispiel, in welcher Zwickmühle sich viele massenmediale Institutionen derzeit befinden, vor allem wenn sie vor den Herausforderungen einer plattformübergreifenden redaktionellen Zusammenarbeit stehen.

Beim Spiegel hat sich gezeigt – ich sage das als Feststellung und ohne jegliche Wertung -, wie schwierig sich dieser Reformprozess gestaltet, und dass insbesondere Chefredaktionen an der Schnittstelle zwischen den bisweilen untereinander konfligierenden redaktionellen Interessen und den Zielen der Geschäftsführung zu kämpfen haben. Auf der einen Seite ist zu beobachten, wie Redaktionen mit viel Energie versuchen, innovativ zu handeln und dies auch strukturell zu begünstigen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch starke Beharrungskräfte und Vertrauen in das, was vermeintlich funktioniert, aber auch Interessen der Besitzstandswahrung. Wir haben in den vergangenen Jahren – auch mit Blick auf die USA – viele Probleme diskutiert, die in Deutschland lange (noch) nicht spürbar waren. Doch mittlerweile gibt sich die Branche insgesamt wachgerüttelt und verschließt sich Veränderungen nicht mehr kategorisch. Der Schwerpunkt verlegerischer Strategien scheint jedoch weniger auf die Erprobung neuer journalistischer Möglichkeiten ausgerichtet zu sein denn verstärkt auf eine wirtschaftliche Konsolidierung, auch weil die Pressewirtschaft als über viele Jahrzehnte stabiler und profitabler Sektor mit einer Mentalität des Experimentierens und einer grundsätzlichen Innovationshaltung fremdelt.

Den Begriff der digitalen Moderne möchte ich hier vornehmlich mit Blick auf den Wandel gesellschaftlicher Kommunikation diskutieren – aufgeteilt in vier unterschiedliche Aspekte. Was verändert sich in dieser digitalen Moderne, in diesem kommunikativen Öffentlichkeitsraum, in dem wir uns befinden und in dem Medien eine entscheidende Rolle spielen? Wir sprechen in Bremen in unserem Forschungszusammenhang von Mediatisierung, also von der Prägung und Durchdringung aller kulturellen und gesellschaftlichen Lebensbereiche und Lebenswirklichkeiten durch technische Kommunikationsmedien. Wir haben im Laufe der heutigen Tagung mehrfach die Rolle des Smartphones als allgegenwärtigen Lebensbegleiter diskutiert – beim Aufstehen, beim Frühstücken, beim Zubettgehen. Jüngst wiesen Psychologen darauf hin, man solle kurz vor dem Zubettgehen nicht mehr aufs hell leuchtende Smartphone schauen, weil der Körper sich dann alarmiert fühle wachzubleiben und der Schlaf zu kurz komme – mit bedenkenswerten Konsequenzen für unsere Gesundheit. Das ist eine von unzähligen Konsequenzen, die wir hier nicht ausdiskutieren können; doch was diesen Entwicklungen zugrunde liegt und gleichsam ihr Ergebnis ist, ist diese „fuzzy world“, wie Roger Silverstone unsere Welt genannt hat. Sie ist voller Unsicherheiten, Medientechnologie ist allgegenwärtig, doch zentrale gesellschaftliche Säulen fallen weg. Die Massenmedien werden langsam marginalisiert; die Rolle des Journalismus wird tendenziell unwichtiger, andere Informationsangebote werden wichtiger. Die Omnipräsenz an Medien führt zur Sättigung so gut wie aller Lebensbereiche mit Informationsangeboten. Genauso wie wir uns überall mit Essen und Trinken versorgen können, holen uns auch überall Informationen ein, auch wenn wir kein Smartphone haben; denn auch im öffentlichen Raum treffen wir auf eine große Vielfalt an Medientechnologie. Was also verändert sich in dieser kommunikativen Infrastruktur, wenn wir unsere Lebenswirklichkeit genauer durchleuchten?

Kommunikative Orientierung in einer mediatisierten Welt
Die Kommunikationsformen ändern sich, die Medienensembles ändern sich, die Akteurskonstellationen in der öffentlichen Kommunikation ändern sich – und nicht zuletzt verändert sich die kommunikative Orientierung von Medien. Und was bedeutet das für den Journalismus? Um diese Transformationsprozesse zu verstehen, wurde an den Universitäten Bremen und Hamburg unter Federführung von Andreas Hepp und Uwe Hasebrink eine Heuristik entwickelt, die wir „kommunikative Figurationen“ nennen (Hepp/Hasebrink 2013). Dies mag auf den ersten Blick als sperriger Begriff erscheinen, dahinter steckt aber ein Konzept, das anschaulich begreifbar macht, wie die kommunikative Konstruktion dessen, was unser Leben, die Kultur und Gesellschaft ausmacht, sich verändert. Es geht dabei nicht allein um die Masse des Medienkonsums, also wie häufig wir am Tag Fernsehen schauen oder wie lange oder wie häufig wir das Smartphone konsultieren. Mit Blick auf den Journalismus geht es vielmehr darum, aus der Sicht der Forschung zu erfassen, wie Menschen sich Informationen unter veränderten medialen Voraussetzungen aneignen (Kramp 2015). Auch die Medienpraxis kann mit einer solchen systematischen Herangehensweise viel über sich selbst wie beispielsweise die Lernfähigkeit von Redaktionen erfahren.

Unter einer kommunikativen Figuration sind Interdependenzgeflechte zu verstehen, also Wechselwirkungen, in denen sich jeder von uns befindet. Wir handeln in denkbar vielfältigen kommunikativen Wechselverhältnissen, je nachdem, welche sozialen Beziehungen wir pflegen, in welchen organisationalen Rahmungen wir uns bewegen (z.B. in der Schule, Ausbildungseinrichtung oder Unternehmen) oder welche Medien wir mit welchen Zielen nutzen. Ein Beispiel: Jeder Journalist befindet sich in einer kommunikativen Figuration mit seinem Publikum, mit seinen Nutzerinnen und Nutzern. Hier stellt sich die Frage, wie vielfältig sich das zur Verfügung stehende Medienensemble gestaltet, aber auch wie sich Akteurskonstellationen verändern, wenn plötzlich die Nutzer auch selbst publizieren können und problemloser mit Redaktionen in Dialog treten können. Auch erweist sich als folgenreich, wenn sich Kommunikationsformen verändern oder neue hinzukommen, zum Beispiel Messaging-Dienste wie Whatsapp zu ungeahnten Informations- und Dialogkanälen avancieren. Außerdem unterliegt auch die thematische Rahmung der Wechselbeziehung zwischen Journalist und Publikum einer Veränderung, wenn Journalistinnen und Journalisten die kommunikative Distanz zu ihren Nutzerinnen und Nutzern senken, sich quasi umorientieren, also weniger im sprichwörtlichen Elfenbeinturm laborieren, sondern offen, transparent und ansprechbar das Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern suchen.

Die ganz persönlichen Medienensembles von uns allen differenzieren sich, diversifizieren sich und werden komplexer. Und wir verbringen immer mehr Zeit mit Medien. Wir alle nutzen nicht mehr – wie noch vor einigen Jahren – nur ein überschaubares Ensemble an klassischen Nachrichtenmedien, um uns zu informieren, sondern verschiedene Mediengattungen wie die Zeitung, das Fernsehen, das Radio oder vielfältige Quellen im Internet, die zudem nicht immer einen journalistischen Hintergrund haben. Da gibt es Facebook und viele weitere soziale Medienplattformen, Kanäle und Ströme wie diverse RSS-Feeds o.ä., die allesamt implizit oder explizit eine Informationsfunktion erfüllen. Die Informationen erreichen uns über unsere Timeline, über die Status-Updates unserer Freunde, wir lesen sie auf Twitter, wir sehen und hören sie bei YouTube oder erleben sie live bei Periscope, wir bekommen sie per persönlicher Nachricht oder bemerken sie beiläufig als ephemeres Foto bei Snapchat. Die einen sind „Lurker“, sie konsumieren nur und publizieren nicht selbst, die anderen sind aktiver und teilen, posten, streamen, als wären sie selbst ein öffentlicher Kommunikator. All das – und nicht zu vergessen die einfache Google-Suche – kann Journalismus in gewisser Weise substituieren. Der Journalismus steht heute mit einem denkbar unbändigen und unübersichtlichen Angebot an Informationen im Wettbewerb.

Es ist erstaunlich, wie sich auch in diesem Zuge die für den Journalismus relevanten Akteurskonstellationen wandeln. Einige beliebig herausgegriffene Beispiele: Der YouTuber LeFloid ist zahlenmäßig mit über 2,4 Millionen Abonnenten einer der erfolgreichsten Videoblogger Deutschlands. Er macht Nachrichten, die er „Action News – aber hart“ nennt. Er befindet sich im intensiven Dialog mit seinen Nutzerinnen und Nutzern, davon zeugen die Zuschaueransprache in den Videobeiträgen ebenso wie die Kommentare darunter. Er versteht sich selbst nicht als Journalist, aber seine Videos stehen als meinungsbetontes Nachrichtenangebot im Wettbewerb mit professionellen Nachrichtenanbietern. LeFloid gehört zum Beispiel zu einer neuen Form von Akteur in der öffentlichen Kommunikation. Dann gibt es Institutionen oder ganze Plattformen, die auch als neue Akteure wahrgenommen werden können, wie beispielsweise heftig.co, ein dezidiert nicht-journalistisches Portal, das nach eigener Darstellung „unwiderstehlich interessante Geschichten zum Lesen und Weitersagen“ bietet. In den sozialen Netzwerken feiert das Portal Erfolge mit sogenanntem „Clickbaiting“, also dem Ködern von Nutzerinnen und Nutzern auf die eigene Website, beispielsweise in Form von emotionalen, sensationellen oder einfach neugierig machenden Schlagzeilen. Und dann gibt es den bzw. die gemeine/n Mediennutzer/in selbst, der mit seinem kommunikativen Medienhandeln Inhalte teilt und damit Informationen (viral) distribuiert wie z.B. Memes, also Bilder, die mit kurzen, pointierten, z.T. auch sarkastischen Kommentaren versehen wurden und eines für viele Beispiele eines typischen nutzergenerierten Medieninhalts darstellen.

Unter diesen veränderten Voraussetzungen von Medienensembles und Akteurskonstellationen hat sich Journalismus mit dem geänderten Informationsverhalten der Mediennutzerinnen und -nutzer auseinanderzusetzen, und mit den vielen neuen Quellen, die das Internet bereithält: von Social Network Sites wie u.a. Facebook über Google und andere Suchmaschinen bis hin zu Portalen, die nutzergenerierte Inhalte bieten und viele mehr. Was vor zehn bis fünfzehn Jahren als innovatives Medienangebot aufkeimte, ist den Nachrichtenorganisationen heute zu einer mächtigen Konkurrenz erwachsen, und sei es dass sie einen Großteil des Zeithaushalts von Mediennutzerinnen und -nutzern beanspruchen und nur noch wenig Zeit bleibt, um professionellen Journalismus zu rezipieren, wenn er denn überhaupt noch kenntlich ist im Meer des Informationsüberangebots, worauf Christoph Neuberger von der LMU München schon Anfang der 2000er Jahre hingewiesen hat. Dass Journalismus womöglich mit seinen Alleinstellungsmerkmalen für manche Alterskohorten nicht mehr erkennbar ist, ist ein bildungspolitisches Problem und ein Problem des Qualitätsmanagements in den Redaktionen. Die Folge jedoch ist unübersehbar: Die Deutungshoheit des Journalismus ist stärker in Gefahr denn je.

Stetig kommen neue Kommunikationsformen hinzu, die in der Regel erst mit Verzögerung für die journalistische Arbeit in Erwägung gezogen werden – zu sehen an der aktuellen Diskussion um die journalistischen Einsatzmöglichkeiten von Messaging-Diensten wie Whatsapp. Innovative digitale Kommunikationsdienste sind für die Zukunft des Journalismus hochrelevant, da die entscheidende Frage für die journalistische Praxis damit zusammenhängt, wie Nutzer zukünftig (besser) erreicht werden können, also: Wie kommen die Inhalte auf die Smartphones, diesem ständigen Wegbegleiter? Wie können Journalistinnen und Journalisten mit ihren Informationsangeboten die Nutzer über den gesamten Tagesverlauf begleiten? Wer die jüngste JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest zu Rate zieht, erfährt, dass bereits 88 Prozent der Jugendlichen (12-19 Jahre) ein Smartphone besitzen. Allein an dieser Zahl lässt sich nachvollziehen, dass Redaktionen nun tunlichst handeln sollten, um den Anschluss an solche strukturellen Anpassungen in der Mediennutzung nicht zu verlieren.

Die Folge dieser Veränderungen münden förmlich in einer kommunikativen Umorientierung: Die Rolle des Rezipienten beschränkt sich nicht mehr allein auf die Rezeption, sondern beinhaltet einen gestiegenen Bedarf kommunikativer Auseinandersetzung, sei es unter Einbeziehung des Journalismus in Form eines Dialogs oder aber unter Ausschluss in der gemeinsamen Diskussion mit anderen Nutzerinnen und Nutzern. Vielerorts wenden sich Redaktionen zu ihren Leserinnen und Lesern, suchen den Kontakt, z.B. in Form von Ombudsleuten oder Leseranwälten wie Anton Sahlender von der Main Post, die sich als Vertreter der Leserinnen und Leser verstehen und deren Interessen innerhalb der Redaktion vertreten. Dann gibt es, zumindest in anderen Ländern, das Open Newsroom-Konzept, das den Gedanken eines Leserstammtisches weiterspinnt und bei dem der direkte Austausch mit dem Publikum vor Ort in der Redaktion oder einem eigens eingerichteten Redaktions-Café gesucht wird. Es gibt – wie bei der Rhein-Zeitung – auch neue Berufsbilder wie das der MoJane, einer mobilen Journalistin, die als Reporterin mit viel digitaler Medientechnik übers Land fährt und mit den Menschen ins Gespräch kommt.

Die Varianten der kommunikativen Umorientierung sind also denkbar facettenreich. Die Relevanz dieses Prozesses war zuletzt daran zu beobachten, wie die Flaggschiffe Spiegel und Süddeutsche Zeitung agierten. Beim Spiegel und begleitend auf Spiegel Online hat der (Print-)Reporter Cordt Schnibben, sozusagen in der Post-Büchner-Ära, sich intensiv mit der Frage befasst, wie der Dialog mit den Nutzerinnen und Nutzern zu bewerkstelligen sei. Es ging ihm vor allem um die Wertschätzung von Journalismus und darum, wie die Leser- bzw. Nutzerbindung (wieder) gestärkt werden könnte. Bemerkenswert dabei war nicht unbedingt der vermeintliche Konflikt zwischen Euphorikern und Skeptikern in den journalistischen Reihen, wenn es um ihr Verhältnis zum Publikum geht, sondern um die Tendenz, das auch traditionelle Medienmarken allmählich die Notwendigkeit erkennen, den Dialog mit ihren Nutzerinnen und Nutzern zu führen und zu organisieren. Auch die Süddeutsche Zeitung geht offensiver denn je in diese Richtung. Sie hat ein eigenes „Ihre SZ“-Logo erstellt und eine Imagekampagne gestartet, bei der bekannte Redakteure des Blattes wie Heribert Prantl mit ausgewählten Leserinnen und Lesern über ihre Beziehung zu ihrer Stammzeitung sprechen – das alles ist online in Form aufbereiteter Videomitschnitte zu sehen. Es geht also erkennbar darum, dass die Süddeutsche Zeitung ihre Leserinnen und Leser ernst nehmen und damit auch nicht hinterm Berg halten möchte. Damit es nicht bei einer Imagekampagne bleibt, arbeitet Online-Redaktionsleiter Stefan Plöchinger schon seit längerem an – für historisch gewachsene Redaktionsroutinen – neuen Formen der Publikumsbeteiligung.

Empirische Einsichten zur Zukunftsfähigkeit des Journalismus
Die geschilderten Beobachtungen werden von den empirischen Ergebnissen zweier Studien untermauert: „Die Zeitungsmacher“, eine repräsentative Befragung von Tageszeitungsredaktionen in Deutschland (Weichert/Kramp/Welker 2015), und „Digitaler Journalismus“ (Lilienthal et al. 2014), einer Studie, die u.a. die Teilhabemöglichkeiten des Publikums an journalistischer Arbeit untersucht hat. Die Studien kamen unabhängig voneinander zu relativ klaren Aussagen: Der Fokus lag jeweils auf der Dialogbereitschaft und fähigkeit von Journalistinnen und Journalisten und einer vermeintlichen kommunikativen Umorientierung der Redaktionen hin zu einem intensiveren Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern. Wie ermittelt wurde, sind Leserkommentare dafür nicht unbedingt das geeignete Mittel, vor allem wenn es darum geht, einen Dialog mit dem Publikum aufzubauen. Uns begleitet schon seit einigen Jahren die Diskussion darüber, wie sinnvoll sich die Kommentarfunktion unter Beiträgen auf Nachrichtenwebsites als konstruktiver Feedback und Diskussionskanal anbietet. Grundsätzliche Probleme betreffen u.a. sowohl die Haltung von Redaktionen gegenüber der nutzerseitig geprägten Debattenkultur als auch die ungenügende Moderationsleistung seitens der Redaktionen. In diesem Kontext wurde der Begriff „Trolle“ auch in Redaktionskreisen zu einem Begriff für Nutzer, die sich nicht benehmen können und Diskussionen bewusst sabotieren – denen jedoch Redaktionen auch strenggenommen durch ihre Defizite hilflos gegenüber stehen und deshalb lieber die Kommentarfunktion einschränken. Als aussichtsreicher werden andere (externe) Social Media-Aktivitäten bewertet, die in einer wachsenden Zahl von Redaktionen von speziell dafür eingerichteten Stellen betreut werden. Deshalb ist überfällig, wie es auch der BDZV am 25. Februar per Pressemitteilung vermeldete, dass mit Nachdruck an neuen Wegen der Publikumseinbindung gearbeitet wird.

Noch existiert eine manifest hohe Kommunikationsdistanz in den meisten Redaktionen, die stark von ihrem Zeitungsprodukt geprägt sind. Natürlich hat so gut wie jedes Zeitungshaus mittlerweile auch eine Online-Redaktion – entweder wird in einem integrierten Newsroom mit der Print-Redaktion produziert oder aber getrennt voneinander gearbeitet. De facto fußen Geschäftsstrategien als auch redaktionelle Arbeitsroutinen in Verlagen jedoch noch immer zwangsläufig auf dem Print-Produkt, da zum einen die wesentlichen Erlöse aus dem Print-Anzeigengeschäft und dem Zeitungsvertrieb generiert werden, zum anderen aber auch die Print-Redaktionen personell in der Überzahl sind. Es handelt sich um über Jahrzehnte gewachsene Organisationsstrukturen, die von einem uneindeutigen Bild vom Publikum geprägt sind: Der Leser bzw. die Leserin ist für viele Journalistinnen und Journalisten noch immer ein „unbekanntes Wesen“ (Elisabeth Noelle-Neumann). Umso langwieriger gestalten sich Prozesse der Veränderung – und erfordern eine systematische, versierte wie motivierende Begleitung. Der Zeitaufwand für Interaktionen mit Nutzerinnen und Nutzern wird in den Redaktionen noch tendenziell als sehr hoch wahrgenommen. Deshalb brauchen Redaktionen umso stärkere Kompetenzen, um mit den gestiegenen Anforderungen effizient umzugehen. Derzeit fühlen sich viele Redaktionen hin und hergerissen zwischen der Inklusion und Exklusion ihrer Leserinnen und Leser.

Unsere Repräsentativbefragung ergab u.a. eine Typologie, welche die Innovationsbereitschaft von Redaktionen beschreiben hilft: Die Hälfte der Redaktionen gibt sich tendenziell veränderungsbereit, das sind vor allem von einer jungen Belegschaft geprägte Redaktionen. Redaktionen mit Beschäftigten mittleren Alters, dies betrifft etwa ein Drittel der befragten Redaktionen, sind skeptischer und distanzierter, und Redaktionen mit älteren Beschäftigten können als desillusioniert und pragmatisch beschrieben werden. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass handwerkliche Faktoren natürlich eine wichtige Rolle spielen, wenn es um die Weiterentwicklung des journalistischen Angebotsspektrums geht: also vom Einsatz neuer Kommunikationsformen wie speziell die Nutzung von Sozialen Netzwerken in der Redaktionsarbeit bis hin zu Datenjournalismus und Digital Storytelling. Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht entscheidender ist aber die organisationale Spiegelung dieser Entwicklungsarbeit in Form von geplanten Change Prozessen: Eine Redaktion kann nur dann effektiv lernen und neue Vermittlungsformen, Einsatzfelder, Rollenbilder und Kommunikationsformen aufgreifen oder sogar antizipieren, wenn sie über den dazu nötigen Handlungsspielraum verfügt. Es hat sich gezeigt, dass Innovation in Redaktionen als weitgehend selbstbestimmter Prozess nur unzureichend in den existierenden institutionellen Rahmungen möglich ist. Integrierte Newsrooms gibt es schon vielerorts, doch plattformübergreifendes Arbeiten ist selbst in integrierten Newsrooms nicht selbstverständlich. Erfolgreiches Change Management setzt ein intrinsisch motiviertes Ineinandergreifen von Geschäftsführung und Redaktion voraus und verbindet strategische Überlegungen, die auch die redaktionelle Perspektive einbezieht: Die Verantwortung für geschäftliche Strategiefragen – das ist ein interessantes Ergebnis auch für Zeitungsmacher – werden nachdrücklich von den Redaktionen eingefordert. Journalistinnen und Journalisten wollen ein Mitspracherecht bekommen, wenn es um ihr berufliches Schicksal geht, und erkennen die Notwendigkeit, sich neue Kompetenzen anzueignen, die auch ihre eigene Berufsrolle hinterfragt.

Die Voraussetzung dafür, dass das Hinterfragen der eigenen Position im Unternehmen und des beruflichen Selbstverständnisses in einen konstruktiven Innovationsprozess mündet, ist ein funktionierender Rahmen für das organisationale Lernen. Hierfür dienen sich konventionelle und für den journalistischen Arbeitszusammenhang bislang ungewohnte Instrumente an: Die Wahrnehmung von Weiterbildungsangeboten ist eine naheliegende, aber nicht immer koordiniert eingesetzte Maßnahme in Redaktionen. Auch die Berufsbilder ändern sich – mal schleichend, mal radikaler, wenn Stellen für Community Manager oder Datenjournalismus-Experten geschaffen werden. Die Herausforderung liegt darin, zum einen Entwickler für digitale Projekte für die journalistische Arbeit zu interessieren, zum anderen emergierende Berufsbilder zu antizipieren – um neue journalistische Funktionen, Produkte oder auch Spielarten zu entwickeln, bevor man es sich bei nicht-journalistischen Unternehmungen abschauen muss. Dazu ist auch vielversprechend, dass Redaktionen Kreativräume einrichten, mit deren Hilfe Journalistinnen und Journalisten losgelöst vom Tagesgeschäft kollaborativ in Teams mit sich gegenseitig ergänzenden Expertisen und Kompetenzen Projekte entwickeln können – idealerweise mit einer zugesicherten Budgetierung.

Letztlich braucht der Journalismus angesichts der vielen folgenreichen Transformationen in der digitalen Moderne ein zielgerichtetes Change Management, das mit Blick auf die skizzierten Aspekte des Wandels die Rahmenbedingungen redaktioneller Arbeitsprozesse anpasst mit dem Ergebnis eines gesteigerten Maßes an organisationaler Flexibilität, Experimentierfreude („Kultur des Scheiterns“) und Motivation. Dafür ist freilich eine strukturelle Absicherung durch Investitionen in die redaktionelle Infrastruktur angesichts latenter Verunsicherungen durch die wirtschaftliche Entwicklung unabdingbar.

Referenzen:
Hepp, Andreas/Hasebrink, Uwe (2013): Human interaction and communicative figurations. The transformation of mediatized cultures and societies. Communicative Figurations Working Paper No. 2, April 2013, http://www.kommunikative-figurationen.de/fileadmin/redak_kofi/Arbeitspapiere/CoFi_EWP_No-2_Hepp_Hasebrink.pdf.
Kramp, Leif (2015): The Rumbling Years. The communicative figurations approach as a heuristic concept to study – and shape – the transformation of journalism. In: Kramp, Leif/Carpentier, Nico/Hepp, Andreas/Tomanić Trivundža, Ilija/Nieminen, Hannu/Kunelius, Risto/Olsson, Tobias/Sundin, Ebba/Kilborn, Richard (2015): Journalism, Representation and the Public Sphere. Bremen: edition lumiére.
Weichert, Stephan/Kramp, Leif/Welker, Martin (2015): Die Zeitungsmacher. Aufbruch in die digitale Moderne. Wiesbaden: Springer VS.
Lilienthal, Volker/Weichert, Stephan/Reineck, Dennis/Sehl, Annika/Worm, Silvia (2014): Digitaler Journalismus. Dynamik – Teilhabe – Technik. Berlin: Vistas.