Erfahrungsbericht
Kultur_®Evolution
Digitaler Journalismus in analogen Mauern
Sylke Gruhnwald Schweizer Radio und Fernsehen (SRF)
Wie Sie schon an meinen Präsentationsfolien erkennen können, ich komme aus einem ganz anderen Medienhaus. Ich komme nicht aus einem Start-up. Ich komme von keinem crowdgefundeten Projekt, sondern ich komme von meinem gebührenfinanzierten Sender. Dieser definiert sich über die Frontgesichter, nämlich die Moderatoren. Und dass hat zunächst vermeintlich wenig mit meinem Lebensalltag zu tun. Ich wurde gebeten, über meine Erfahrungen zu sprechen, über digitalen Journalismus in analogen Mauern. Zum einen bei der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) und zum anderen beim Schweizer Radio und Fernsehen (SRF). Die Neue Zürcher Zeitung ist eine Institution, gleiches gilt für das Schweizer Radio und Fernsehen. Sowohl bei der NZZ als auch beim SRF wurde ich jeweils mit offenen Armen in Empfang genommen, es ging durch die Branchenblätter, die Medien würden wieder investieren, indem sie mich holen und nicht nur mich alleine, sondern ein Team. Es wird nicht abgebaut, sondern aufgebaut. Nach der Anfangseuphorie ist mir dann meistens eine Mauer begegnet und hinter diesen Mauern lagen die Dossiers, gern die harten Dossiers aus den Bereichen Politik – Inland und Ausland – sowie Wirtschaft. An diesem Punkt beginnt meine Arbeit, nach der ganzen anfänglichen Euphorie ist es meine Aufgabe, dort Einlass zu finden in diese Gärten und mit den jeweiligen Ressort- und Dossierverantwortlichen zu arbeiten. Das war bei der NZZ so und das erlebe ich jetzt so bei Schweizer Radio und Fernsehen. Und um erst mal eine Zusammenarbeit oder eine erste Gesprächsbasis zu schaffen, braucht es eine Grundlage, die ich wiederum schaffen muss. Ich muss erklären, was ich mache und was mein Team macht. Datenjournalismus, das ist ein „Buzzword“, auch in der deutschsprachigen Medienlandschaft. Doch was der Begriff wirklich bedeutet und was es konkret auch für mich und mein Team bedeutet, das muss ich den Kollegen und Kolleginnen an die Hand geben.
Für uns hängt Datenjournalismus ganz stark zusammen mit der computergestützten Recherche, das heißt, ich nutze Technologien, um an Daten zu kommen und diese Daten auszuwerten und aus diesen Daten heraus Geschichten zu generieren. Wir verfolgen also einen sehr ähnlicher Ansatz wie CORRECT!V und Open Data City. Diese Definition nutze ich als Gesprächsgrundlage. Damit mein Team überhaupt erst mal den ersten Schritt machen kann in Richtung einer kollaborativen Zusammenarbeit, intern mit den Redaktionskollegen, aber auch extern mit anderen Fachexperten, die man sich unter Umständen ins eigene Haus holt.
Hinter meinem Team stecken aktuell drei Köpfe, inklusive meinem. Dazu zählen Julian Schmidli, der mich von der Sonntagszeitung zum SRF begleitet hat. Die Sonntagszeitung ist eine große Wochenzeitung in der deutschsprachigen Schweiz. Mit im Team ist Timo Grossenbacher, er ist unser Entwickler, eine ganz wichtige Person an Board. Warum, weil wir im Newsroom, wie man das so schön auf neudeutsch nennt, nicht mehr getrennt operieren, d.h., zusammen mit dem Entwickler und den wenigen Programmierkenntnissen, die ich mir angeeignet habe und die, die Julian mitbringt, haben wir die Möglichkeit, strukturiert Daten im größeren Stil anzusammeln, diese auszuwerten und daraus Geschichten zu erzählen. Wir bilden diese kleine Keimzelle des Datenjournalimus‘ bei Schweizer Radio und Fernsehen.
Angefangen habe ich aber sozusagen als „One-woman-show“ bei der Neuen Zürcher Zeitung. Im Verlauf der letzten drei Jahre konnte ich dann ein Datenjournalismus-Team aufbauen. Im Frühjahr 2014 waren wir sieben Personen inklusive einer Volontärstelle.
Mein Team bei Schweizer Radio und Fernsehen, SRF Data, besteht derzeit aus drei Personen. Sehr wichtig für uns ist das Umfeld, in dem wir arbeiten. Dieses bietet uns die Möglichkeit im Haus mit anderen Redaktionen zu kooperieren. Um die interne Kooperation zu fördern, wurde eine entsprechende Aufhängung meines Teams innerhalb der Organisation des SRF gewählt: Wir sind als Fachredaktion bei SRF News, der Nachrichtenredaktion, angesiedelt. Unsere Chefs sind die Chefredakteurin Information/Radio und der Chefredakteur Information/TV. Darüber hinaus arbeiten wir mit den Kollegen des Multimediazentrums, der Gestaltung sowie der Aus-und Weiterbildung zusammen. Um dieses Konstrukt zu beleben, arbeiten wir in einer Triage: Marco Morell, Chef vom Dienst beim Radio, Gregor Meier, Nachrichtenchef des Fernsehens, und ich als Leiterin SRF Data besetze den Digital-Kanal des SRF. In allen Informationssendungen des SRF arbeiten zudem „Datenjournalismus-Botschafter“. Und monatlich laden wir zu einem Datenjournalismus Jour fixe. Diese Idee haben wir uns bei Spiegel Online abgeschaut.
Einmal monatlich laden wir interessierte Redakteure ein, um in unserer Redaktion den Gedankenaustausch zu pflegen oder ich fahre nach Bern zu unseren Radiokollegen. Und das alles mit dem Ziel, die eine Geschichte zu finden. Das heißt, wir versuchen, Daten zu nutzen, wir versuchen, uns der Technologie, die uns zur Verfügung steht, bestmöglich zu bedienen, um Geschichten zu erzählen. Und das machen wir, wie wir auch ein Telefon benutzen. Das Telefon gehört genauso dazu. Wir sitzen nicht den ganzen Tag nur hinter Excel-Tabellen oder fragen Datenbanken ab, es kommt irgendwann auch schnell der Punkt, wo wir zum Telefonhörer greifen, um mit Experten zu sprechen, um mit Betroffenen zu sprechen, um dieser einen Spur, die wir in einem Datensatz unter Umständen entdecken, ein „G’spür“, zu geben, um die bestmögliche Geschichte zu erzählen.
Jede Geschichte ist unterschiedlich komplex. Wir unterscheiden in Anlehnung an Computer-Spiele verschiedene Level. Das 1. Level umfasst zum Beispiel die eindimensionale Wiedergabe von Abstimmungsergebnissen. Zur einfachen Ergebnisdarstellung wird unser Team nicht gebraucht.
Aber bereits auf Level 2 wird es schwierig: Hier werden Datensätze gemischt, sogenannte „Mash-ups“ erstellt. So werden beispielsweise Abstimmungsergebnisse mit demografischen Daten gepaart. Auf Level 3 wird das Mash-up eingehend analysiert. Ein Bespiel dafür ist die Analyse der Vorratsdatenspeicherung in Zusammenarbeit mit Open Data City. Es ist eine Weiterführung der Geschichte des deutschen Abgeordneten Malte Spitz in Person des grünen Parlamentariers Balthasar Glättli. Wir hatten Daten über einen Zeitraum von sechs Monaten seines Bewegungsprofils bekommen, die gemischt wurden mit anderen Kommunikationsdaten, wie zum Beispiel seinen Aktivitäten in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter. Wir haben die Daten auf eine Karte gelegt und siehe da, verblüffende Informationen werden sichtbar, beispielsweise, wann Balthasar Glättli aufsteht, weil er dann sein Telefon anmacht oder wann er ins Bett geht, weil er dann das Telefon ausmacht, wann er das Land verlässt, weil dann die Kommunikation abbricht. Lauter solche kleinen feinen Details konnten rausgelesen werden und wir haben versucht, diese sehr persönlichen Informationen in einen größeren Kontext zu stellen um zu zeigen, was Vorratsdatenspeicherung bedeutet.
Die Königsklasse aber, Level 4, ist die Erhebung von Daten. Ein Beispiel dafür ist die Zusammenarbeit mit mehr als zehn Kollegen aus sechs europäischen Ländern an der Recherche zu „The Migrants’ Files“. Wir haben Daten zu den Todesfällen an Europas Grenzen erhoben. Wir haben im Vorfeld mit vielen europäischen Organisationen und Institutionen gesprochen – Frontex als Grenzschutzorganisation zum Beispiel, und verschiedenen NGOs – und haben festgestellt, dass dort sehr viele Daten erhoben werden, aber sie führen keine Statistiken darüber, wie viele Menschen es nicht lebend nach Europa schaffen. Mit Hilfe unseres eigenen Suchalgorithmus haben wir über ein halbes Jahr Daten gesammelt und in einer Datenbank abgelegt, die öffentlich zugänglich ist. Diese wird laufend aktualisiert, die Daten sind weiter verwertbar für alle Interessierten. Dazu konnten wir die verschiedenen Fluchtwege nach Europa identifizieren und auf einer Karte visuell darstellen. Wir werden im Frühjahr 2015 eine zweite Iteration zu der Flucht nach Europa veröffentlichen.
Ein weiteres Beispiel ist die Geschichte der „verlorenen Kinder“. Ein Pärchen, das aus der Schweiz aufgebrochen ist und sich nach Syrien abgesetzt hat, mutmaßlich, um sich der Terrororganisation Jabhat al Nusra anzuschließen. Das ist eine Geschichte, die man klassischerweise nicht dem Datenjournalismus zuordnen würde, was dahinter steckt, ist Computer-gestützte Recherche, in Englisch „Computer Assisted Reporting“, kurz CAR. Diese Disziplin rechne ich dem Bereich Datenjournalismus zu. Mit Hilfe eines Computers bin ich den beiden nachgespürt, konnte ihre Genese nachvollziehen aufgrund ihrer digitalen Fußabdrücke, die sie im Netz hinterlassen haben. Diese Investigation konnten wir gemeinsam mit der Rundschau, dem Schweizer Pendant zu Monitor oder Frontal21 in enger Zusammenarbeit mit der deutschen Tageszeitung „Stuttgarter Nachrichten“ veröffentlichen.
Von redaktioneller Seite stellt sich dabei die Frage, wie viel Arbeitsaufwand steckt in solchen recherche-intensiven Geschichten und gerade, wenn wir von großen Projekten sprechen, fließt viel Zeit in die Konzeption. Je nachdem wie groß wir das visuell aufziehen möchten – gibt es beispielsweise eine eigene Website, gibt es eine eigene Datenapplikation – dann frisst das ungleich mehr an Zeit, sowohl für das visuelle Design als auch für die Programmierung. Und weil wir ein sehr junges Team sind oder weil wir in einem jungen Umfeld arbeiten, lege ich für mein Team viel Wert darauf zu dokumentieren, was wir machen. Es beginnt bei der Datenrecherche, es werden Rechercheprotokolle geführt, es wird minutiös nachgezeichnet, wer wann wie wo was gearbeitet oder verarbeitet hat an einem Datensatz bis hin zu der Frage, wie kam die Geschichte beim Nutzer an, was gab es für Rückmeldungen.
Im besten Fall, das erleben wir gerade im Zuge der erwähnten Geschichten, ergeben sich Anschlussgeschichten, die von den Lesern, Zuhörern und Zuschauern an uns herangetragen werden. Und um das zu stemmen, für ein kleines Team von drei Personen ist das viel Arbeit, suchen wir Kooperationspartner, wie beispielsweise Open Data City. Genauso freue ich mich, wenn externe Kollegen auf uns zukommen und uns für eine Zusammenarbeit anfragen. Nur in der gemeinsamen Arbeit ist es möglich, große, aber auch kleinere Geschichten qualitativ hochwertig unter dem Druck im Alltag zu produzieren. Wir sind also dabei, die Mauern durch Kollaboration abzutragen, aber es ist ein weiter Weg.