Archiv 2020 "Digitale Nachhaltigkeit"
Pressemitteilung
Plattformen brauchen andere Werte!
lpr-forum-medienzukunft 2020
zum Thema „Digitale Nachhaltigkeit. Über Gesellschaftsverträglichkeit und Plattform-Ökonomie“ am 12. März in Frankfurt
Frankfurt am Main, 13. März 2020 Die öffentliche Meinungsbildung scheint zunehmend durch Effekte von Aufmerksamkeitsökonomie und Empörungsdemokratie, von Fake News und „alternativen Fakten“ gefährdet. Organisiert wird diese Entwicklung von Algorithmen digitaler Plattformen, die jenseits der klassischen Massenmedien bestimmen, wer wann welche Information oder gar Desinformation erhält. Mehr und mehr wandelt sich die Mediengesellschaft zu einer Netzwerkgesellschaft. Das alles hat zum Teil gefährliche Folgen für das gesellschaftliche und politische Klima, weil zunehmend öffentliche Meinung verzerrt abgebildet wird – durch Verschwörungstheorien, durch Social Bots oder schlicht dadurch, dass Privates und Öffentliches kaum noch voneinander getrennt wird. Beim 11. lpr-forum-medienzukunft wurden am 12. März Auswege aus dem Dilemma gesucht, dass digitale Plattformen einerseits mehr Vielfalt versprechen, den Pluralismus andererseits aber auch verengen, wenn Algorithmen zu intransparenten Gatekeepern der informationellen Infrastruktur avancieren.
Martijn de Waal, Professor der University for Applied Science in Amsterdam, erklärte, das Geschäftsmodell digitaler Plattformen wie Facebook bestehe daraus, hyperindividualisierte Zielgruppen an Werbetreibende zu verkaufen. De Waal analysierte, soziale Online-Netzwerke würden gleichsam nur ein Gefühl für Dialog und Reflexion erzeugen, könnten aber keine öffentlichen Räume schaffen, die für alle gleichermaßen zugänglich seien. Der Kultur- und Medienwissenschaftler warnte vor der „ökonomischen Logik des Plattformkapitalismus“, die keinen Raum für gesellschaftliche Werte lasse und die Entstehung öffentlicher Räume untergrabe. Ähnlich urteilte auch der Direktor der LPR Hessen, Joachim Becker. Er verwies auf Daten-Skandale, Populismus und Hassrede, wehrte sich aber gegen dystopischen „Netz-Pessimismus“ und den Mythos einer technischen, politischen und gesellschaftlichen Zwangsläufigkeit, in deren Verlauf der Mensch der digitalen Technologie als Opfer ausgeliefert sei.
Bei der Gestaltung digitaler Plattformen, die ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden sollten, müsse danach gefragt werden, wie ethische Aspekte für die Infrastruktur berücksichtigt wer-den könnten, empfahl Sarah Spiekermann. Die Professorin für Wirtschaftsinformatik und Gesellschaft der Wirtschaftsuniversität Wien erklärte, ökonomische Wertschöpfung bedeute im Fall von Facebook eben auch gesellschaftliche Wertvernichtung, was an Effekten wie Vertrauensverlust oder wachsender Unsicherheit deutlich werde. Wenn Menschen in der digitalen Welt zunehmend über Erschöpfung und Stress-Symptome klagten, sei das kein Zeichen von Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Deshalb sprach sich Sarah Spiekermann dafür aus, nachhaltige gesellschaftliche Faktoren bei der Entwicklung neuer digitaler Produkte stärker zu berücksichtigen. Das Thema „Value Proposition“ müsse deshalb zum Kern aller Geschäftsmodelle gehören. Hessens Digitalministerin Kristina Sinemus erinnerte in diesem Zusammenhang an das Nachhaltigkeitsdreieck von Ökonomie, Öko-logie und Gesellschaft, das auch für den Sektor der Digitalisierung eine zentrale Bedeutung haben müsse. Außerdem rief die Ministerin dazu auf, analoge Formen der Kommunikation „weiter zu nutzen und zu pflegen“.
Welche Rolle die klassischen Medien im System der digitalen Netzwerkgesellschaft spielen können, erörterte Tobias Gostomzyk. Der Professor für Medienrecht der Technischen Universität Dortmund ermunterte zu mehr Kooperationen zwischen den Branchen Print und Rundfunk sowie zwischen öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Programmanbietern von Hörfunk- und TV-Programmen. Weil durch die Macht der großen Plattformen und Online-Konzerne aus den USA Medien- und Meinungsvielfalt sowie der publizistische Qualitätswettbewerb gefährdet seien, müssten die klassischen Anbieter von Medieninhalten in Deutschland stärker zusammenarbeiten. Tobias Gostomzyk setzt sich deshalb für eine Medienpolitik ein, die „kooperationsorientierte Rahmenbedingungen“ schaffen soll. Nur durch entsprechende Allianzen könnten Printmedien und Rundfunkprogrammanbieter den Netzwerkeffekten der Plattform-Ökonomie wirkungsvoll etwas entgegensetzen. Innerhalb des von Tobias Gostomzyk skizzierten Coopetition-Ansatzes sollen Kooperationen über den zurzeit geltenden rechtlichen Rahmen hinaus erwünscht sein, solange sie publizistischen Wettbewerb, also Vielfalt und Qualität schützen. Für entsprechende gesetzliche Bestimmungen habe der Gesetzgeber ausreichende Spielräume, solange Staatsferne und Pluralismus nicht gefährdet würden. Noch aber existiere in den Bereichen Medienpolitik und -recht kein „einheitlicher Leitgedanke“ für Kooperationen, sagte der Medienrechtler.
Zum Auftakt der von Alexandra Borchardt geleiteten Abschlussdiskussion, fragte die Buchautorin und Journalistin nach weiteren Modellen, mit denen Pluralismus und gesellschaftliche Werte vor dysfunktionalen Effekten der Netzwerkökonomie geschützt werden könnten. Adrian Lobe schlug einen besseren Schutz der Privatsphäre vor. Der Politikwissenschaftler und Journalist kritisierte den „Überwachungskapitalismus“ von Facebook, der private Daten missbrauche und mit behavioristischen Modellen darauf ziele, die Verweildauer der Nutzerinnen und Nutzer zu maximieren, um so möglichst hohe Werbeerlöse zu verbuchen. Als Gegenentwurf schlug Adrian Lobe Plattformen vor, die gegen Zahlung einer Nutzungsgebühr darauf verzichten sollten, Nutzungsdaten zu erfassen. „Für eine stabile Öffentlichkeit brauchen wir eine stabile Privatsphäre“, betonte der freie Journalist und Autor. Debatten gehörten in den öffentlichen Raum. Bei Facebook aber sei das nicht der Fall. Darüber hinaus gelte dort oft die Regel „Haus- vor Grundrecht“, wenn etwa Inhalte gelöscht würden. Auf die Frage, warum sich trotz der gesellschaftlichen Gefahren so viele Nutzerinnen und Nutzer für Facebook, Google oder Amazon entscheiden, erläuterte Kemal Görgülü, Mitbegründer der Beyond Platforms Initiative, das liege schlicht an User Experience und User Engagement. Nutzerführung und Bedienbarkeit seien sehr praktisch, die angebotenen Services bedeuteten ein großes Maß an Bequemlichkeit.
Die Journalistin und Buchautorin Ingrid Brodnig fasste am Ende der Tagung die wichtigsten Erkenntnisse in ihrem Fazit wie folgt zusammen: „Plattformen brauchen andere Werte!“ Allerdings würden Technologieunternehmen nicht von selbst ihre Perspektive ändern, um gesellschaftsorien-tiert zu agieren. Da seien gesellschaftlicher Druck und politische Regulierung gefragt. Im Übrigen, so merkte Ingrid Brodnig an, sei es in der Technologiegeschichte typisch, dass bei Innovationen auf eine erste Phase der Begeisterung die zweite Phase der Kommerzialisierung folge, der in der dritten Phase Ernüchterung und als vierte Phase Regulierung folgen würden.
Matthias Kurp
Matthias Kurp ist Professor an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln
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