Archiv 2012 „Netz-Verfassung”
Auftakt: Wie demokratisch ist das Netz?
Wolfgang Thaenert
Direktor LPR Hessen
In Kürze begehen wir den Tag der Pressefreiheit. Am 3. Mai werden wir – wie jedes Jahr seit 1994, seit Einführung des Tages der Pressefreiheit, wieder mit erschreckenden Zahlen konfrontiert werden – die der getöteten Journalisten, die der verhafteten Journalisten und auch die der weggesperrten Online-Aktivisten. Es ist ein trauriger Nachweis für die gewachsene und wachsende Bedeutung des Netzes, dass die Zahl der verhafteten Internet-Journalisten Jahr für Jahr steigt. Längst halten die Zensoren Schritt mit der Entwicklung des Netzes und haben aufgerüstet – in China, Iran, Saudi-Arabien und einer Reihe weiterer Staaten, die die Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen „Feinde des Internet“ nennt. Länder, die die UN-Charta unterschrieben und sich damit verpflichtet haben, die Menschenrechte ihrer Bürger zu achten und zu schützen und sie nicht einzusperren und mundtot zu machen, weil sie Missstände aufdecken und damit den Herrschenden unbequem werden.
Es war ein langer Weg, bis die Pressefreiheit, die Informations- und Meinungsfreiheit erkämpft war. Bis sie verankert war in unseren nationalen Verfassungen, in der UN-Charta, in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Bis sie für uns selbstverständlich geworden ist. Damit diese Freiheit gelebte Praxis bleibt, sind vielfache Anstrengungen nötig. Das gilt auch für das globale Netz, das unsere Kommunikationswelt, unsere Lebens- und Arbeitswelt in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten so radikal verändert hat und weiter verändert mit seinen schier unendlichen Möglichkeiten. Doch die Informations- und Kommunikationsfreiheit im Netz ist durchaus nicht sicher, sie ist vielmehr gefährdet, wenn auch weitaus subtiler als bei den „Feinden des Internet – kurzfristig weniger existentiell für den Einzelnen, langfristig aber höhlt es unser demokratisches Gesellschaftsmodell aus und stellt unser Rechtssystem in Frage.
Längst haben wir uns unter die Kuratel von Google & Facebook, Amazon & Apple gestellt. Sie wissen so gut wie alles über uns – welche Fragen uns beschäftigen, welche Informationen wir suchen, welche Freunde und Kontakte wir haben, wie wir unser soziales Leben organisieren, was wir kaufen oder kaufen möchten. Doch damit nicht genug: die Daten, die wir ständig über uns preisgeben – und oftmals ohne darüber nachzudenken – sind der Goldstandard der digitalen Welt. Der kostbarste Rohstoff, den wir einfach so verschenken. Scheinbar werden wir dafür belohnt – etwa wenn Amazon uns vorschlägt, was wir kaufen sollen – vom neuesten Buchtitel bis zum Fotoblitz, von der Espressomaschine bis zum Rasenmäher. Oder soziale Netzwerke uns die Freunde, die wir haben sollten, vorschlagen. Oder Google weiß, wonach wir Nutzer suchen und uns dank des gespeicherten Wissens über uns gezielt Antworten gibt, die zu unserem individuellen Profil passen. Zunehmend bewegen wir uns in den geschlossenen Welten der Unternehmen, gesteuert von den Algorithmen, und machen uns dabei die Gefahr der Manipulierbarkeit kaum bewusst.
Längst haben wir es mit digitalen Supermächten zu tun. Weltweit 800 Millionen Menschen nutzen Facebook, das auch in Deutschland bei weitem den Markt dominiert – und mit 25 Millionen Nutzern mehr als 50 Prozent Marktanteil hat. Wir nehmen es ganz selbstverständlich hin, dass Google hierzulande mit fast 90 Prozent Marktanteil die Suchmaschine schlechthin ist. Was also ist, wenn Google seine Vormachtstellung nutzt, um eigene Inhalte an die Nutzer zu bringen? Und warum akzeptieren wir – relativ widerspruchslos -, wenn Apple entscheidet, welche Inhalte in die Apple-Welt passen und welche nicht. Das war schon in der analogen Medienwelt problematisch, wenn Infrastrukturanbieter zugleich auch Inhalteanbieter sein wollten. In der konvergenten Medienwelt hat sich die Frage der Neutralität der Infrastruktur keineswegs aufgelöst, sondern sie stellt sich verschärft.
„Wettbewerb ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Voraussetzung zur Vielfaltsicherung.“ Dieser Merksatz des großen alten Mannes des Wettbewerbsrechts, Ernst-Joachim Mestmäcker, gilt sicher auch für die digitale Welt. Für die analoge Medienwelt haben wir ein umfängliches Regulierungsinstrumentarium zur Verhinderung von Konzentration. Was uns an Instrumenten zur Vielfaltsicherung zur Verfügung steht – über deren Schlagkraft ich hier nicht weiter räsonieren will – ist auf den hiesigen Medienmarkt und weitgehend auf die analoge Welt bezogen.
Was also haben wir den digitalen Supermächten entgegenzusetzen? Eine schlagkräftige Konkurrenz lässt sich weder herbeireden noch verordnen. Auch ansonsten ist unser Waffenarsenal ziemlich leer; und auch die Reichweite der vorhandenen Regulierungsinstrumente ist im globalen Kontext beschränkt. Bleiben also die Spielregeln: Internationale Vereinbarungen für Mindeststandards, mehr Transparenz, mehr Rechte für die Nutzer, besserer Datenschutz und der politische Wille, die Regeln durchzusetzen.
Wie demokratisch also ist das Netz?
Ohne die Kommunikationsmöglichkeiten des Netzes hätte der Arabische Frühling vermutlich so schnell nicht Einzug gehalten in Tunesien, Ägypten, Libyen und zum Ende der Diktaturen beigetragen. Dass es irgendwann den Geheimdiensten dort nicht mehr möglich war, die Aktivisten ausfindig zu machen, ist sicher auch der Anonymität der im Netz aktiven Person ein Stück weit geschuldet. Aber würden wir den Machtkampf per Micro-Blog auch gegen demokratisch legitimierte Entscheidungen in gleicher Weise „adeln“?
Welchen Einfluss die Internet-Gemeinde auf politische Entscheidungen nehmen kann, hat uns das „Schicksal“ von ACTA gezeigt. Die Mobilisierung der Netz-Aktiven gegen das multilaterale Handelsabkommen gegen Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzungen, die Organisation internationaler Protesttage im Februar diesen Jahres, das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit zu diesem Thema hat offensichtlich Regierungen und Funktionsträger überrascht. Neben den inhaltlichen Kritikpunkten des Abkommens – Eingriff in die Privatsphäre, Verletzung von Grundrechten, Internetsperren, Bewahrung des veralteten Urheber- und Verwertungsrechts – war es auch die Intransparenz der Verhandlungen und des gesamten Verfahrens, die Anstoß erregte. Aber wer von uns hat den Gesamttext des Abkommens gelesen und verstanden?
Weiter: Wie gehen wir damit um, wenn die Persönlichkeitsrechte einzelner im Netz verletzt werden, wie zum Beispiel die des jungen Mannes in Emden, der zunächst fälschlicherweise wegen Mordes verhaftet wurde und sich umgehend mit massiven Drohungen im Netz und Aufrufen zur Lynchjustiz konfrontiert sah?
Wie gehen wir mit dem Anspruch auf kulturelle Teilhabe um, auch ein in der UN-Menschenrechtscharta verbrieftes Recht. Da heißt es in Artikel 27: „Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt … teilzuhaben“. Und was ist mit denen, die von ihrer geistigen Arbeit leben wollen? „Jeder hat das Recht auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen“, sagt derselbe Artikel in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN.
Wie kommen die Regeln, nach denen das globale Netz funktioniert, zustande? Wer entscheidet über die Standards unseres digitalen Zusammenlebens? Wer ist dazu legitimiert sie zu definieren und wer ist durchsetzungsstark genug, sie global durchzusetzen?
„Zukunft ist die Ausrede jener, die in der Gegenwart nichts tun wollen“. Wir, die anderen, sind heute hier, um uns um die Mediengegenwart und –zukunft zu kümmern. Danke dafür und: Herzlich Willkommen! Seien Sie Zukunftsinteressierte, Digital Natives, Immigrants oder Residents, Netzanbieter, Nutzer, Nerds oder Kritiker.
19. April 2012 | Frankfurt am Main