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Archiv 2020 "Digitale Nachhaltigkeit"

Pressemitteilung

Debatten über Desinformation, Disruption und Dystopie

lpr-forum-medienzukunft 2020
zum Thema „Digitale Nachhaltigkeit. Über Gesellschaftsverträglichkeit und Plattform-Ökonomie“ am 12. März in Frankfurt

Frankfurt am Main, 12. März 2020 Desinformation und Propaganda, Hass und Hetze, Fake News und Shitstorms führen in der digitalen Öffentlichkeit zunehmend zu einem gefährlichen Wandel des Meinungsklimas. Die Algorithmen von Informationsintermediären und sozialen Online-Netzwerken wie Facebook, Twitter & Co. gehorchen den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie, in der Reichweiten wichtiger als Wahrheiten sind. Geklickt wird, was Emotionen erzeugt – fast so, als habe es das Zeitalter der Aufklärung nie gegeben. Was in der digitalen Medienwelt fehlt, sind eine nachhaltige Kommunikationskultur und gemeinwohlorientierte Netzwerk-Strukturen. Zu diesem Ergebnis kamen beim 11. lpr-forum-medienzukunft am 12. März Expertinnen und Experten aus den Bereichen Politik, Journalismus und Wissenschaft. Mehr als 200 Tagungsteilnehmer diskutierten in der Evangelischen Akademie Frankfurt die Gesellschaftsverträglichkeit der sogenannten Plattform-Ökonomie. Dabei standen Verantwortung, souveräne Mediennutzung sowie ethische Nachhaltigkeit der digitalen Transformation ganz oben auf der Agenda aller Vorträge und Debatten.

„Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“, erinnerte der Direktor der LPR Hessen, Joachim Becker, bei seiner Begrüßung an eine 33 Jahre alte Definition der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen. Eine solche Nachhaltigkeit benötige auch das digitale Ökosystem in Zeiten der Internetökonomie. Die Geschäftsmodelle und Kommunikationsapparate von Google, Facebook, Amazon, Apple und Microsoft hätten unsere Art zu arbeiten, uns zu informieren, zu kommunizieren, einzukaufen, zu lernen, ja selbst die Partnersuche „auf den Kopf gestellt“, betonte Becker. Die Schattenseiten diese Entwicklung seien Desinformation, eine Radikalisierung öffentlicher Diskurse, Disruption und oft sogar Dystopie. „Plattformen versprechen personalisierte Dienstleistungen, sie versprechen, Innovationen zu ermöglichen, zum Wirtschaftswachstum beizutragen – unter Umgehung bestehender Organisationen, lästiger Regulierung und unnötiger Kosten“, warnte der Direktor der LPR Hessen. Plattformen seien weder neutral noch wertfrei. Deshalb müsse ihre Gestaltung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden, plädierte Becker in puncto Internet-Regulierung für eine Art Gesellschaftsvertrag. In diesem Zusammenhang verwies der LPR-Direktor auch auf den neuen Medienstaatsvertrag: „Hier gibt es erstmals Regelungen für bestimmte Formen der Nachhaltigkeit und Diskriminierungsfreiheit mit Blick auf Plattformen und Intermediäre. Doch die sind noch in vager und von den Landesmedienanstalten auszugestaltender Form.“

Auch Hessens Digitalministerin Kristina Sinemus unterstrich die Bedeutung einer nachhaltigen Integration neuer Technologien in die Gesellschaft. Angesichts der Megatrends Digitalisierung und Nachhaltigkeit sowie immer größerer Datenströme müsse die zentrale Frage lauten: „Brauchen wir das alles so schnell und so viel?“ Digitalisierung dürfe kein technologischer Selbstzweck sein. Die Hessische Landesregierung habe sich zum Ziel gesetzt, die Sensibilisierung aller Akteurinnen und Akteure für eine verantwortungsvolle Mediennutzung zu fördern.

Daher werde aktuell eine ‘Servicestelle für verantwortungsvolle Mediennutzung’ eingerichtet, die für Schülerinnen und Schüler ein Anlaufpunkt bei Fragen und Beratung rund um die Stärkung der Medienkompetenz sein werde.

Auf der Suche nach Konzepten, mit denen der öffentliche Raum einer digitalen demokratischen Gesellschaft optimal gestaltet werden kann, verglich Martijn de Waal, Professor der University for Applied Science in Amsterdam, das digitale Leben mit dem urbanen Geschehen einer Stadt. Sowohl auf öffentlichen Plätzen als auch in der Online-Sphäre würden Treffpunkte geschaffen, in denen (fremde) Menschen aufeinandertreffen. Städte wie digitale Plattformen seien gleichermaßen Orte, die vielfältige Kulturen verbinden. Dabei gehe es oft nicht um ästhetische Lösungen, sondern vor allem um Raster für soziale Beziehungen. De Waal forderte, demokratische öffentliche Räume müssten integrativ, einladend und verbindend sein, um sowohl kollektives als auch individuelles kommunikatives Handeln zu ermöglichen. Der Kultur- und Medienwissenschaftler argumentierte, klassische Medien würden wie die öffentlichen Räume in den Städten zum Austausch und zur Konfrontation einladen und eine diskursive und reflektierende Orientierung hervorbringen. So werde etwa die Produktion von Zeitungen durch professionelle Werte geprägt, die den Journalismus mit der Demokratie verbinden. Bei den digitalen Kommunikationsplattformen sei dies anders. Sie woll-ten nicht als klassische Medien verstanden werden. Facebook & Co. würden stattdessen bestehende öffentliche Räume auf gefährliche Weise verändern: „Als Vermittler leugnen sie, eine Verantwortung für die Organisation der öffentlichen Sphäre zu haben, sondern folgen einer ökonomischen Logik des Plattformkapitalismus“, urteilte der Medienforscher aus Amsterdam.

Bei der Frage, welche Verpflichtungen Online-Konzerne und Intermediäre gegenüber der Gesellschaft haben, rückte Sarah Spiekermann grundlegende ethische Fragen in den Fokus. Die Professorin für Wirtschaftsinformatik und Gesellschaft der Wirtschaftsuniversität Wien erklärte, bei neuen Technologien müssten Vor- und Nachteile abgeglichen und Auswirkungen auf unterschiedliche Interessengruppen untersucht werden. Schließlich gelte es zu klären, welche Maxime oder Wertprioritäten durch einen neuen Service betroffen sind, die so wichtig seien, dass die Gesellschaft sie bewahren möchte. „Was wertvoll ist, ist das, was unser Leben bereichert“, warnte Spiekermann davor, jedem technologischen Hype zu folgen. Sie sprach sich nachdrücklich für einen neuen Begriff der Wertschöpfung aus, der menschliche Werte wie Vertrauen oder Wissen in den Vordergrund stellen müsse. Es dürfe bei der Digitalisierung nicht nur darum gehen, Kosten zu senken oder „irrationale Produkte in die Märkte zu drücken“.

Der Journalist und Buchautor Adrian Lobe bezeichnete das Facebook-Geschäftsmodell als „gesellschaftsunverträglichen Überwachungskapitalismus durch Abschöpfung persönlicher Nutzerdaten“. Wenn Privatsphäre nicht mehr möglich sei und Nutzerdaten ausgewertet würden, handle es sich um ein totalitäres System. Tobias Gostomzyk, Professor für Medienrecht der Technischen Universität Dortmund, kritisierte das Plattform-Modell von Facebook als „nicht gesellschaftsverträglich“ und forderte neue Kooperationen zur Stärkung der klassischen Medienanbieter. Kemal Görgülü, Mitbegründer der neuen Beyond Platforms Initiative, kündigte an, unter diesem Namen werde am 3. April offiziell ein Verein ins Leben gerufen, der als Think Tank vor allem eines anstrebe: die Suche nach den digitalen Plattform- und Medienkonsumstandards der Zukunft, um möglichst vielen Nutzerinnen und Nutzern in Sachen Information und Kommunikation Unabhängigkeit, Transparenz und Vielfalt zu ermöglichen.

Matthias Kurp

Matthias Kurp ist Professor an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln

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