Archiv 2019 "Entgrenzt optimiert ersetzbar"
Pressemitteilung
Das digitale Ich im Zeitalter der (un)sozialen Online-Netzwerke
lpr-forum-medienzukunft 2019
zum Thema Entgrenzt_optimiert_ersetzbar am 4. April in Frankfurt
Frankfurt am Main, 4. April 2019 Der Homo Digitalis ist immer online, lebt datenbasiert optimiert, ist rund um die Uhr (und Welt) vernetzt und doch im Internet oft isoliert: Die Algorithmen der gro-ßen Konzerne des World Wide Web personalisieren Inhalte und Informationen. Content und E-Commerce werden auf der Basis von Nutzerdaten individuell adressiert. Der neue Trend heißt Hyperindividualismus. Dabei führt die digitale Kommunikationskultur häufig zu einer Fragmentie-rung der Gesellschaft, die durch soziale Online-Netzwerke geprägt ist. Dort aber wirkt die Kommu-nikation bei Shitstorms oder Cybermobbing häufig eher unsozial. Welche Rolle spielt das Individuum als digitales Ich in der postmodernen Demokratie? Wie lässt sich ein Diskurs über Normen und Werte unserer Gesellschaft führen? Und welche Rolle spielen bei diesem Prozess Journalismus, Medien und Politik? Über diese Fragen diskutierten am 4. April beim 10. lpr-forum-medienzukunft in Frankfurt Expertinnen und Experten aus den Bereichen Politik, Journalismus und Wissenschaft. Mehr als 220 Tagungsteilnehmer verfolgten in der Evangelischen Akademie Frankfurt Vorträge und Debatten zum Thema „Entgrenzt_optimiert_ersetzbar. Digitale Herausforderungen an das Ich und was daraus für die Gesellschaft folgt“.
Die Digitalisierung ermögliche Personalisierung und sorge mit gezielte Adressierbarkeit für Individualisierung, konstatierte der Direktor der LPR Hessen, Joachim Becker, bei seiner Begrüßung. „Was also, wenn aus einem Maximum an Individualität ein Minimum an geteilter Realität wird?“, fragte der Gastgeber. In Zeiten, in denen ein Amoklauf bei Facebook als Live-Streaming aus der Täterperspektive zu sehen sei, drohe ein Gewaltexzess zur alltäglichen Wirklichkeit zu werden. Joachim Becker warnte vor der Entgrenzung privater und öffentlicher Räume und vor einer „An-passung des Menschen an die Funktionsweise des Kommunikationskanals“. Dabei verwies der Direktor der LPR Hessen auch auf einen „Sog der sozialen Medien“ und auf deren „manipulative Wirkung“, die darin liege, online Bestätigung zu suchen und davon abhängig zu werden. Soziale Bewertungssysteme, die datengestützt über menschliche Schicksale entscheiden, gebe es nicht nur in China, sondern längst auch bei uns. Die Zahlen der Twitter-Follower, der Facebook-Freunde, der Instagram-Likes oder der Tinder-Matches seien längst quantifizierte Anerkennung: „Wir vermessen uns und unsere – scheinbar sozialen – Beziehungen, und wir reagieren darauf durchaus mit der Anstrengung, uns anzupassen, uns zu optimieren“, warnte Joachim Becker. In einer Zeit, in der Roboter und Künstliche Intelligenz Menschen „ersetzbar“ machen, entstehe bei vielen ein „Gefühl des Ausgeliefertseins“. Dabei gehe die Schere zwischen einer „informierten“ und der sogenannten „breiten“ Öffentlichkeit weiter auseinander. Umso wichtiger für Medienfreiheit und selbstbestimmte Mediennutzung seien Bildung, Aufklärung, Medienkompetenz und Transparenz, forderte der Direktor der LPR Hessen.
Auf die Frage, wie gesellschaftliche Kommunikation im Online-Zeitalter angesichts von zersplitterten (Teil-)Öffentlichkeiten, instabilen öffentlichen Kommunikationsräumen und einer sinkenden Verbindlichkeit von Werten und Normen gelingen kann, präsentierten Wissenschaftler beim lpr-forum-medienzukunft unterschiedliche Antworten. Einigkeit aber herrschte darüber, dass grundlegende Begriffe wie Intelligenz, Demokratie, Politik oder öffentliche Meinung neu gedeutet werden müssen.
Sebastian Markett, Professor für Molekulare Psychologie (Humboldt-Universität zu Berlin), erläuterte, Smartphones und Social Media würden nicht nur die Art, in der wir denken, verändern, sondern auch einen Teil des Gehirns umformen. Er verwies auf Studien, die gezeigt hätten, dass exzessive Facebook-Nutzung das Belohnungszentrum im Gehirn schrumpfen lasse. Wenn bereits das Facebook-Logo die Aktivität des Belohnungszentrums im Gehirn steigere, müsse nach möglichen Sucht-Gefahren gefragt werden. Bislang sei allerdings nur Internet- und Gaming-Sucht als Krankheit anerkannt. Nach Ansicht von Philosophie-Professor Markus Gabriel (Universität Bonn) macht das Internet die Menschen einerseits intelligenter, weil es hilft, Probleme schnell zu lösen. Andererseits aber verändere es den Menschen und seine Sozialität auch negativ, weil es Rollen, Werte und Normen auflöse. So würden Nutzer von sozialen Online-Netzwerken schnell „Opfer ihrer eigenen falschen Vorstellung von sich selbst“. Zum Thema Künstliche Intelligenz (KI) sagte der Direktor des Bonner Center for Science and Thought schlicht: „Es gibt keine KI.“ Schließlich stecke hinter Algorithmen menschliches Denken. Am Geschäftsmodell der sozialen Online-Netzwerke kritisierte Markus Gabriel, sie erzeugten ein „digitales Proletariat“, das ohne Entlohnung für Facebook & Co. arbeite, indem es seine Nutzerdaten liefere.
Für die Art, in der Online-Angebote demokratische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse verändern, hat Jeanette Hofmann, Forschungsdirektorin des Alexander von Humboldt-Instituts für Internet und Gesellschaft, den Begriff mediatisierte Demokratie geprägt. Die Professorin für Internetpolitik (Freie Universität Berlin) verwies auf verschwimmende Grenzen zwischen öffentlicher und privater Sphäre, zwischen Produzenten und Konsumenten von Informationen, zwischen Medien und Intermediären sowie zwischen Information und Konversation. Das alles habe dazu geführt, dass Politik und Öffentlichkeit(en) in einem neuen, oft unverbindlichen Verhältnis stünden. Jeanette Hofmann sprach von „fluiden Kollektivsubjektiven“ und „instabilen politischen Akteuren“, die öffentliche Debatten oft aufgrund von Emotionen und Affekten prägten. Hinzu komme die mediale Konstruktion von Wirklichkeiten, die entstehe, wenn Nutzer etwa mit Suchanfragen auf künftige Relevanz-Bewertungen Einfluss nehmen würden, ohne dies selbst zu bemerken.
Patrick Burghardt, Staatssekretär für Digitale Strategie und Entwicklung der hessischen Landesregierung, versicherte bei seinem Schlusswort, das neue Digitalministerium in Wiesbaden werde außer Chancen auch die Risiken und Gefahren der Digitalisierung in den Blick nehmen. Dazu gehöre etwa die Frage, was Betreiber digitaler Sensoren an Daten erfassen, verwenden, speichern oder gar verkaufen dürfen. Um solche Fragen zu klären, seien Forschungsprojekte, Expertengespräche und Veranstaltungen zum Bürger-Dialog geplant. Außer ethischen Aspekten würde auch das Thema Medienkompetenz auf der Agenda des erst seit Januar bestehenden Ministeriums stehen, teilte Burghardt mit. Schließlich gehe es auch darum, die Digitalisierung verstehen zu lernen.
Matthias Kurp
Matthias Kurp ist Professor an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln
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