Archiv 2011 „Netz und Neuronen”
„Das Medium ist die Botschaft“
Begrüßung zum lpr-forum-medienzukunft 2011
Von Wolfgang Thaenert
„Heute gibt es keine Waffenruhe der Mediengesellschaft mehr, keine Feuerpause zwischen Montagszeitung und Dienstagszeitung, auch nicht zwischen der 20-Uhr-Tagesschau am Mittwoch und der am Donnerstag, nicht einmal zwischen Frühstücksfernsehen und Mittagsmagazin. Jetzt wird rund um die Uhr geballert, und zwar aus allen Rohren. Dass die Welt schlecht, böse, hoch gefährlich, wahnsinnig und verrückt ist, erfahren wir nun im Minuten-, ja Sekundentakt“. Reinhard Mohr diagnostiziert in seinem unbedingt hören- und lesenswerten Radio-Essay eine „unheilige Trias aus Dramatisierung, Skandalisierung und Emotionalisierung“, die darauf abzielt, eine „möglichst große Menge an Affekten“ zu produzieren und „wahre Gefühlsströme und psychische Eruptionen“ auszulösen. Längst schwinge ein Großteil der Gesellschaft im Rhythmus der Liveticker, „im Alarmmodus“ der Echtzeit-Kommunikation.
Die Beschleunigung der Information wird getrieben vom Internet. Sie hat die traditionellen Medien erfasst und verändert, neue Angebote hervorgebracht, unsere Mediennutzung umgekrempelt. Mehr noch: sie bestimmt auch unsere persönliche Kommunikation. Wir sind ständig und überall erreichbar. Und wer nicht prompt simst und mailt oder bloggt, twittert, facebookt.- der scheint nicht mehr existent. Wir bewegen uns in social networks, haben „Freunde“, die wir nicht unbedingt persönlich kennen müssen, unsere Bedeutung hängt von der Zahl der „followers“ ab, die unsere Nachrichten von maximal 140 Zeichen verfolgen. Wir spielen einen Söldner in „Bounty Hounds Online“, der eine ferne Galaxie befreien soll, und verfolgen online die Minutenprotokolle der Revolutionen in Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen, Syrien.
Die Grenzen zwischen privater und öffentlicher Kommunikation lösen sich auf, und ebenso verschwimmen die Realitätsebenen. Was ist da virtuell und was real? Was folgt daraus für die Kommunikationskultur, für den Prozess von Meinungs- und Willensbildung, für die Entscheidungsfindungen des einzelnen und die Urteilskraft der Gesellschaft? Verstärkt die „Schwarmbildung medialer Aufmerksamkeit“ und die durchgehende Emotionalisierung von Öffentlichkeit, die online jederzeit mobilisierbar ist, den Trend zur Stimmungsdemokratie? „Wutbürger“ war Wort des Jahres 2010.
„Das Medium ist die Botschaft“. Diese Erkenntnis hat Marshall McLuhan bereits 1964 formuliert. Es ist der Schlüsselsatz seines Buches „Understanding Media“. Medien sind aus Sicht des kanadischen Philosophen und Medientheoretikers eine Erweiterung der menschlichen Sinne. Nicht was sie senden, sondern dass sie es tun, sei das Entscheidende. Sie verändern ständig und ohne jeden Widerstand unsere Wahrnehmungsmuster. Medien liefern nicht nur Informationen, den Stoff für neue Gedanken, sondern sie formen vor allem den Prozess des Denkens. McLuhan formuliert es drastisch: Medieninhalte seien nicht viel mehr als ein Stück Fleisch, mit dem der Einbrecher den vor dem menschlichen Geist postierten Wachhund ablenke. Haben wir uns also zu sehr von dem Fleischbrocken ablenken lassen, uns zu sehr mit Medieninhalten anstatt mit den Strukturen befasst ohne zu überlegen, welchen Einfluss sie auf uns haben?
McLuhan jedenfalls hat sich früh für einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Fernsehen und dem Zustand des Gehirns interessiert. Man möge sich vorstellen, man schalte nach einem langen Arbeitstag „das Artefakt“ ein: „Fast sofort gleitet Ihr Gehirn in einen passiven, neutralen Zustand hinein, eingelullt von den Pünktchen, die im Dreißigstel einer Sekunde sequentiell über den Bildschirm hinweg blitzen.“ Darüber hinaus befasste er sich mit der Digitalisierung der Arbeitswelt: „Der Computer ist eine massive Ausdehnung einer einzigen Ebene des Denkens …. Sie arbeitet lediglich mit „ja“ und „nein“: Dem Wesen der ausgeschlossenen Mitte, das in der Digitalform erscheint“ . Eine andere Denkweise sei damit ausgeschlossen.
Was aber heißt das, wenn Medien und Kommunikation digitalisiert sind? Der amerikanische Journalist und Buchautor Nicolas Carr beschreibt, wie Frederick Winslow Taylor Anfang des 20. Jahrhunderts mit einer Stoppuhr in der Hand die Arbeitsprozesse im Stahlwerk Midvale Steel in Philadelphia vermaß, in Einzelschritte zerlegte und am Ende damit Arbeitseffizienz und Produktivität enorm steigerte. Seine „Grundsätze Wissenschaftlicher Betriebsführung“ aus dem Jahr 1911 sorgten für ein System von Messung und Optimierung. Es ist bis heute die Grundlage industrieller Produktion. Auch die Suchmaschine Google, die die meisten von uns tagtäglich benutzen, um Zugang zu den Informationsschätzen des Netzes zu bekommen, setzt auf Messen und Optimierung. Doch was bedeutet es, wenn Wissen zur Ware wird, die mit industrieller Effizienz ver- und bearbeitet wird? Wenn die Daten der Nutzer gesammelt werden und die Suchergebnisse immer mehr personalisiert werden? Was bedeutet es, wenn Information über Algorithmen industrialisiert wird? Stehen wir vor der Industrialisierung des menschlichen Denkens?
Was sagt die Hirnforschung dazu? Die Digitalisierung hat auch in der neurowissenschaftlichen Forschung für einen enormen Schub gesorgt. Die bildgebenden Verfahren haben das allgemeine Interesse an ihr erhöht. Wir können heute davon ausgehen, dass unser Denkapparat sich fortwährend anpasst. Dass jede Wahrnehmung, jedes Denken, jedes Fühlen das Gehirn verändert. Was bedeutet die Plastizität des Gehirns mit Blick auf die rasant beschleunigte online-Medienwelt und unsere neuen Nutzungsgewohnheiten? Wie verarbeiten wir Informationen und wie gehen wir mit dem Übermaß davon um?
Unsere Sprache verrät unsere Unsicherheit darüber. Opern-, Theater-, Literatur- und Kunstbegeisterte nennen wir Freunde, Liebhaber, ihre Liebhaberei auch Passion. Begeisterte „Fischer im Netz“ sind dagegen Junkies, Netzabhängige, bestenfalls Nerds oder schlicht Netzgemeinde. Ist die häufige Nutzung des Netzes etwas anderes als das Stöbern im Buch- oder Musikgeschäft oder der Mediathek? Würde Kant heute surfen, fragte die FES (Friedrich-Ebert-Stiftung) vor wenigen Tagen aus gutem Grund. Oder geraten wir in die „Twitter Falle“, wie der Chefredakteur der durchaus internetaffinen New York Times schrieb. Ist es so, dass die Generation Facebook zwar über ungeheure Informationsmengen verfügt, ihr aber der Kontext für das Verständnis fehlt?
„Alle Medien sind Ausdehnung menschlicher Fähigkeiten – seien sie psychisch oder physisch“, gibt uns Marshall McLuhan mit. „Das Rad ist eine Ausdehnung des Fußes. Das Buch ist eine Ausdehnung des Auges, Kleider sind eine Ausdehnung der Haut, die Medien unserer Zeit sind eine Ausdehnung des Zentralnervensystems. Indem Medien die Umwelt verändern, schaffen sie in uns eine ganz bestimmte Konstellation sinnlicher Wahrnehmung. Die Ausdehnung nur eines Sinnes verändert die Art, wie wir denken und handeln, die Art, wie wir unsere Körper wahrnehmen. Wenn diese Verhältnisse sich wandeln, wandelt sich der Mensch.”