logo

Archiv 2011 „Netz und Neuronen”

Wie das Hirn Informationen verarbeitet
Ein Gespräch mit der Neurowissenschaftlerin Katrin Amunts

Das menschliche Gehirn, so zeigt uns die Neurowissenschaft, passt sich an, verändert sich, es verarbeitet alle Wahrnehmungen und alles hinterlässt Spuren. Wie muss man sich das vorstellen, was Ihre Disziplin „Plastizität“ des Gehirns nennt?
Katrin Amunts: In den ersten Lebensjahren kommt es zu besonders großen strukturellen Veränderungen. Es kommen neue Verbindungen dazu, und es fallen Verbindungen weg, die nicht gebraucht werden. Nicht nur die funktionelle Organisation ändert sich, sondern selbst die anatomische Vernetzung der Hirngebiete kann sich umbilden. Die „Hardware“ unterliegt gleichsam einer permanenten Entwicklung. Auch beim Erwachsenen ist das Gehirn kein statisches Gebilde, sondern verändert sich. Das betrifft z.B. die Ebene der Synapsen. Synapsen sind die Orte, an denen die Information von einer Nervenzelle auf eine andere über einen chemo-elektrischen Mechanismus weiter geleitet wird. Zudem gibt es fortlaufende Anpassungen der Effizienz der Signalübertragung. Der Mechanismus ist außerordentlich komplex, aber durch Untersuchungen der vergangenen zwei Jahrzehnte weitgehend geklärt. Diese Veränderungen können vorübergehend oder langfristig sein. Sie sind u.U. nach kurzer Zeit nicht mehr nachweisbar. Das Gehirn ist also nicht nur ein plastisches, sondern ein sehr dynamisches System, das auf Umwelteinflüsse, Erkrankungen oder Alterungsprozesse im Rahmen seiner genetischen Voraussetzungen reagiert. Das kann Moleküle und Zellen betreffen; die Umbauvorgänge können so umfangreich sein, dass sie sogar ganze Zellverbände verändern und mit bildgebenden Verfahren sichtbar und messbar werden. Schließlich gibt es schier unendlich viele Möglichkeiten, wie diese verschiedenen Ebenen miteinander interagieren.

Übung macht den Meister, heißt es. Wenn man etwas intensiv und über lange Zeit übt, zum Beispiel Geige oder Klavier spielen, hinterlässt das Spuren im Gehirn?
Katrin Amunts: Ja. Wir haben eine Studie mit Berufsmusikern durchgeführt, die schon als Kinder angefangen haben, Klavier zu spielen. Sie haben dies während ihres Musikstudiums fortgeführt. Wir haben magnetresonanztomographische Bilder ihrer Gehirne mit denen von Nichtmusikern verglichen. Alle waren Rechtshänder. Da bei Geigern und Pianisten ein sehr intensives beidhändiges Training stattfindet, wird also auch die linke Hand intensiv feinmotorisch trainiert. Deshalb war es für uns nicht verwunderlich, dass die Musiker geringere Unterschiede als die Nicht-Musiker in der Geschicklichkeit zwischen linker und rechter Hand aufwiesen. Die Musiker waren wie erwartet insgesamt schneller und geschickter mit beiden Händen als die Nicht-Musiker. Uns interessierte die Frage, ob diese Unterschiede in der Feinmotorik mit Umbauvorgängen im Gehirn einhergingen. Die magnetresonanztomographischen Bilder zeigten in einer quantitativen Analyse, dass die Hirnregionen, die Bewegungen der linken oder rechten Hand steuern, die sogenannte motorische Hirnrinde, bei den Musikern größer waren als bei den nichttrainierten Vergleichspersonen.

Was bedeutet das?
Katrin Amunts: Offensichtlich geht eine größere Geschicklichkeit mit mehr Nervengewebe in der Steuerzentrale einher. Man muss außerdem wissen, dass die linke motorische Hirnrinde die rechte Hand steuert, wohingegen die rechte motorische Hirnrinde für die linke Hand verantwortlich ist. Verblüfft hat uns, dass die Größenunterschiede zwischen linker und rechter motorischer Hirnrinde geringer bei Musikern waren als bei Nicht-Musikern. D.h., die funktionelle und strukturelle Anpassung in Leistung, Bau und Größe der Hirnregion, die für Handbewegungen zuständig ist, spiegelt auch die gesteigerte beidhändige Leistung wider. Zudem konnten wir nachweisen, dass die Musiker eine umso stärkere Vergrößerung der motorischen Rindengebiete zeigen, je früher sie angefangen haben, das Klavierspiel zu trainieren. Auch dieser Zusammenhang zwischen individueller Lebensgeschichte und plastischer Anpassung des Gehirns zeigt, dass Training, das Klavierspielen, das Gehirn verändern kann.

Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern im 15. Jahrhundert hat nicht nur für die Verbreitung von Luthers Bibelübersetzung gesorgt und die Reformation, sondern auch für große gesellschaftliche Umbrüche. Es hat sich in Folge allmählich auch eine Kultur des Lesens entwickelt. Kann man vermuten, dass sich damit unsere Hirnstrukturen verändert haben?

Katrin Amunts: Man darf sich das nicht so vorstellen, dass sich in der Folge von Gutenbergs Erfindung ein neues Gebiet im Gehirn entwickelt hat. Es ist kein „Lesezentrum“ entstanden. Lesen ist vielmehr ein komplexer Vorgang, der einen Abgleich und die Verarbeitung verschiedener visueller Informationen erfordert. Wir müssen davon ausgehen, dass Lesen aus einem Zusammenspiel visueller, akustischer, formal logischer und weiterer allgemeinwirksamer Funktionen zusammengesetzt ist. Dazu gehört auch eine Interpretationsfähigkeit semantischer Kategorien, die erforderlich ist, um die Bedeutung dessen, was ich gelesen habe, zu verstehen. Beim Lesen ist auch das Gedächtnis involviert; ich muss mir z.B. bei einem langen Satz merken können, wie er angefangen hat. Diese allgemeinen Funktionen waren schon vorhanden, bevor Gutenberg den Druck oder der Homo sapiens das Schreiben erfunden hat. Das Zusammenspiel der verschiedenen allgemeinen Funktionen zur besonderen Leistung „Lesen“ wird natürlich durch die Ausübung des Lesens im Sinne der Plastizität des Gehirns gesteigert. Die Einflüsse auf kultureller und gesellschaftlicher Ebene scheinen mir ähnlich bedeutsam wie die plastischen Veränderungen im menschlichen Gehirn.

Was ist anders für das Gehirn beim Lesen von Gedrucktem im Vergleich zum Lesen von Texten am Bildschirm und Surfen im Netz? Wird unsere Informationsverarbeitung schneller, aber auch oberflächlicher?

Katrin Amunts: In einer magnetresonanztomographischen Untersuchung haben Wissenschaftler gezeigt, dass bei unerfahrenen Internetnutzern die Hirnaktivierung beim Lesen auf dem Bildschirm sich nicht von der beim Surfen im Internet unterscheidet, bei dem ebenfalls Lesefunktionen notwendig sind. Bei erfahrenen Internetnutzern ist eine stärkere und ausgedehntere Hirnaktivierung sichtbar, die sich von der beim Bildschirmlesen unterscheidet. Allerdings sind die Unterschiede wohl eher darauf zurückzuführen, dass durch die z.B. höhere Geschwindigkeit des Lesens beim Surfen auch quantitativ höhere Anforderungen an das Gehirn gestellt werden. Das Muster der aktivierten Hirnregion ist in allen Fällen ähnlich. Wir können daher auch davon ausgehen, dass der Unterschied zwischen dem Lesen von Gedrucktem und dem Lesen auf dem Bildschirm vergleichbare Hirnreaktionen hervorruft. Dennoch kann man Veränderungen in der Hirnaktivierung nicht völlig ausschließen, wenn wir das eigentliche Gebiet der lesebedingten kognitiven Leistungen verlassen, denn das Gehirn reagiert anders, wenn es unterschiedlichen Input bekommt. Bücher zum Beispiel kann man anfassen. Die unterschiedliche haptische Information könnte durchaus unterschiedliche Hirnreaktionen hervorrufen. Elektronische Texte sind zudem sehr viel uniformer in ihrem Erscheinungsbild. Zudem macht es auch einen Unterschied, ob ich in einem gedruckten Buch oder in einem elektronischen Buch zurückblättere, vorspringe oder diagonal lese.

Wenn wir lesen, setzen wir unser „Kopfkino“ in Gang und produzieren selbst Bilder. Wir leben aber in einer medialen Bilderwelt, die unser Hirn nicht mehr zum Generieren eigener Bilder reizt. Wird unser Hirn folglich bequemer?

Katrin Amunts: Natürlich kann eine Überflutung mit Bildern zu einer kognitiven „Resignation“ und in der Folge auch zu einer gewissen Wahrnehmungseinschränkung kommen. Der passive Konsum großer Bildmengen und das häufige Anschauen von Videoclips schränkt Raum ein, eigene Bilder zu generieren. Grundsätzlich gilt sicher: Es macht uns ärmer und unser Gehirn träger, wenn wir nur passiv konsumieren. Eine angemessene Auseinandersetzung mit Bildern und Texten erfordert Zeit und eigenständige Imagination; dies führt zu Lernvorgängen, die mit einer organischen Hirnveränderung im Sinne einer sinnvollen Leistungssteigerung verbunden sind. Lernen ist ein aktiver Prozess – es entstehen neue neuronale Verbindungen und es bilden sich zusätzliche Synapsen. Aber hier gibt es sicher noch viel Forschungsbedarf.

Informationsflut, Beschleunigung, wachsende Komplexität – sind die Schlüsselworte für das Leben in der digitalen Welt. Gibt es eine natürliche Grenze der Informationsverarbeitung für das Gehirn?

Katrin Amunts: Ja, die gibt es, aber wir kennen diese Grenze heute sicherlich nicht, denn Informationsverarbeitung und maximale Kapazität im Gehirn sind nicht einfach aus Messgrößen wie der Anzahl der Nervenzellen oder Synapsen oder gar der Hirngröße ableitbar. Sie können die Grenze der Informationsverarbeitung in einem Computer leicht abschätzen, das Gehirn ist aber kein Computer, sondern eine in seiner Komplexität und Leistungsfähigkeit auch heute noch weitgehend unverstandene biologische Struktur. Einschränkungen der Informationsverarbeitung des Gehirns, wie wir sie bei Patienten feststellen können, sind keineswegs einfach durch Überlastung der vorhandenen Kapazität erklärbar, sondern hängen oft von völlig anderen Mechanismen ab. So spielt z.B. Stress eine wichtige Rolle. Zudem sind die Belastungsgrenzen individuell sehr unterschiedlich.

Die Medienwelt ist von einer zunehmenden Vermischung von Realitätsebenen und Virtualität gekennzeichnet. Wie wirklich ist die Wirklichkeit für das Gehirn?

Katrin Amunts: Bei der Wahrnehmung der uns umgebenden physikalischen Wirklichkeit kommt es durch unsere Sinnesorgane und das Gehirn zu einem Transformationsprozess, bei dem nur noch ein kleiner Teil der Wirklichkeit überhaupt im Gehirn in Form von Signalketten zur Verfügung gestellt wird. Wahrscheinlich sind es die Aspekte der Wirklichkeit, die für unser Überleben als Spezies von Bedeutung sind. Wir sehen also nicht die Wirklichkeit in ihrer ganzen physikalischen Komplexität. Das Gehirn schafft aus den relevanten Informationen ein eigenes Konzept der Wirklichkeit, das der Biologie des Menschen angepasst ist. Wir extrahieren also aus dem Stimulus, der auf unsere Sinnesorgane trifft, Informationen, filtern sie und setzen sie in Erregungsmuster um. Deshalb können auch virtuelle Welten ausgesprochen real auf uns wirken. Dazu gibt es interessante Untersuchungen aus der Psychologie, die den Begriff der presence in den Mittelpunkt stellen. Wir können virtuelle Welten als ganz und gar real wahrnehmen und uns nur zeitweise „erinnern“, dass das, was wir sehen, auf dem Bildschirm ist und dass wir die Person außerhalb des Bildschirms sind. Wir können aber auch tief eintauchen in diese Welten, besonders, wenn wir sie selbst gestalten können. Wenn wir interaktiv mit der virtuellen Welt in Kommunikation treten, dann verschwindet die Grenze für längere Zeit. Die virtuelle Realität wird real.

Dann sind wir auf dem Weg von künstlicher Wirklichkeit zur wirklichen Virtualität?

Katrin Amunts: Das Gehirn unterscheidet das nicht unbedingt. Die Hirnaktivierungen in der virtuellen Welt, die für uns in diesem Moment real ist, sind genau an den gleichen Stellen zu finden wie in der Realität.

Ist das Wiederauftauchen und Zurechtfinden, eine Orientierung im „richtigen Leben“, schwierig für das Gehirn?

Katrin Amunts: Das kann sehr schwierig sein, aber dies ist kein Phänomen, das auf die Online-Welt beschränkt ist. Das kennen wir auch, wenn wir ein Buch lesen – auch da können wir völlig „abtauchen“ und haben dann Schwierigkeiten, uns sofort in der richtigen Welt wiederzufinden. Wir haben uns vielleicht mit dem Helden identifiziert, mitgelitten und es wurden eigene Erinnerungen geweckt, die sich mit denen des Helden vermischen.

Viele Computerspiele setzen auf Gewalt. Was wird aus diesem medialen Verhaltensmuster gelernt werden?

Katrin Amunts: Mich hat eine Fernsehsendung über automatisierte Kriegsführung sehr nachdenklich gemacht. Es wurden dort drohnenähnliche Flugzeuge gezeigt, die nicht von Piloten geflogen, sondern von Operatoren ferngesteuert werden. Diese Flugzeuge können reale Zerstörungen anrichten; sie stellen sich jedoch wie in einem Computerspiel dar. Dadurch wird die Hemmschwelle bei den Operatoren deutlich heruntergesetzt. Vielleicht hat der Philosoph in dieser Sendung recht, der argumentiert, diese Art der Kriegsführung mache die Welt sicherer, weil der Computer vorgegebene Regeln verlässlicher einhalten könne als ein Mensch in der Hitze des Gefechts in der wirklichen Welt oder unter immensem Stress. Ich aber denke, dass sich auch bei der automatisierten Kriegsführung wie bei Computerspielen die Grenzen verwischen können und damit moralisch schwierige Entscheidungen oder Vorgaben leichter akzeptabel werden. Neurologisch gesehen ist das ein Lernprozess, bei dem der Mensch sich verändert, auch wenn die Kriegführung vorhersehbarer wird. Das sind Erfahrungen, die für das menschliche Verhalten durchaus relevant sind, auch wenn sie im virtuellen Raum gemacht worden sind. Es klingt plausibel, wenn im Falle eines Amokläufers vorheriger massenhafter Konsum von Gewaltvideos als ursächlich angesehen wird, eine wissenschaftlich ausreichend gerechtfertigte Feststellung ist dies nicht. Der neurobiologische Mechanismus ist gegenwärtig noch nicht zureichend verstanden.

Wie wichtig ist Belohnung für unser Lernen und Verhalten?

Katrin Amunts: Extrem wichtig! Wir sind belohnungsgesteuerte Lebewesen. Wir kennen mittlerweile viele Schaltkreise im Gehirn, die belohnungsabhängiges Verhalten ermöglichen. Dabei können wir feststellen, dass Belohnung viele Hirnprozesse und Lernvorgänge verstärkt. Lernen funktioniert dann gut, wenn Lernen belohnt wird.

Mit Prof. Dr. Katrin Amunts, Direktorin des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin, Forschungszentrum Jülich, sprach Ingrid Scheithauer.