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Archiv 2011 „Netz und Neuronen”

Pressemitteilungen

Erfolgreich durch Belohnung: warum das Internet uns derart fasziniert

Frankfurt am Main, 27. Mai 2011
„Netz und Neuronen – Wie digitale Medien unser Denken verändern“: So lautete am Donnerstagabend das Motto der zweiten Veranstaltung in der Reihe „lpr-forum-medienzukunft“ der Hessischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien (LPR Hessen). Wissenschaftler und Medienschaffende ergründeten die Faszination des Internets und dessen Folgen für unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit.

Die Grenzen zwischen realer und virtueller Welt verschwimmen immer mehr. Was dabei in unserem Denkapparat passiert, erklärt die Neurowissenschaft so: „Das Gehirn schafft ein eigenes Konzept der Wirklichkeit. Wir extrahieren aus dem Stimulus, der auf unsere Sinnesorgane trifft, Informationen, filtern sie und setzen sie in Erregungsmuster um. Deswegen können virtuelle Welten ganz und gar real auf uns wirken“, erläutert die Hirnforscherin Katrin Amunts in ihrer Keynote auf dem lpr-forum-medienzukunft „Netz und Neuronen“. Das menschliche Hirn ist ein „sehr dynamisches System“ und unterliege einer permanenten Entwicklung. Was also machen gewalthaltige Computerspiele in den Hirnen ihrer jugendlichen Nutzer? Der Zusammenhang zwischen Gewaltspielen und Aggressionsneigung sei noch „schwer experimentell zu fassen“, sagt die Direktorin des Instituts für Neurowissenschaften am Forschungszentrum Jülich und Professorin für Medizin an der RWTH Aachen, die hier großen Forschungsbedarf sieht. Aber das Hirn sowie Teile des biochemischen Belohnungssystems reagierten bei Jugendlichen „völlig anders als bei Erwachsenen“ und sei durch den Umbau leichter zu beeinflussen und „vulnerabler“. Generell übe das, was Spaß mache und Erfolg bringe, starke Reize auf unser Gehirn aus. „Wir sind nun mal belohnungsgesteuerte Lebewesen“, so die Neurowissenschaftlerin, Lernen funktioniert dann gut, wenn Lernen belohnt wird”. So kann sich auch Ungünstiges festsetzen.

„Die Hälfte aller in Deutschland erhältlichen Computerspiele haben mit Gewalt zu tun“, macht Jeffrey Wimmer deutlich. Dennoch rät der Mediensoziologe, der sich an der TU Ilmenau mit Onlinespielen befasst, zur Besonnenheit. „Wir diskutieren die Auslandseinsätze der Bundeswehr in Afghanistan sehr intensiv“, überlegt der Medienexperte. Womöglich hänge dies ja gerade damit zusammen, „dass wir so viele virtuelle Kriege führen“.

Die Beschleunigung der Information „hat die traditionellen Medien erfasst und verändert, neue Angebote hervorgebracht, unsere Mediennutzung umgekrempelt“, sagte Professor Wolfgang Thaenert, Direktor der LPR Hessen. Mehr noch: Das rasante Informationstempo bestimme auch die persönliche Kommunikation. „Wer nicht prompt simst und mailt oder bloggt, twittert und facebookt, der steht abseits.“ Zudem lösten sich die Grenzen zwischen privater und öffentlicher Kommunikation auf, und ebenso verschwämmen die Realitätsebenen. „Was ist da virtuell und was real?“ Die Folgen für die Kommunikationskultur, für den Prozess von Meinungs- und Willensbildung, für die Entscheidungsfindungen des einzelnen und die Urteilskraft der Gesellschaft seien kaum absehbar, fügte Thaenert hinzu.

Die traditionellen Medien geraten dadurch unter gehörigen Druck und sehen sich gezwungen, immer schneller auf hochgepeitschte Emotionen zu reagieren. „Die Zeit, sich zurückzulehnen und einen Tag lang über ein Thema nachzudenken, haben wir nicht mehr“, bedauerte Rouven Schellenberger, Chefredakteur der Frankfurter Rundschau. Doch gewiss bleibt für ihn: „Man dachte ja anfangs, der Journalist wird überflüssig; doch das Gegenteil ist richtig: Die Einordnung der Information wird immer wichtiger.“ Gerade das werde noch immer am ehesten den klassischen Medien zugetraut.

„Qualität wird immer eine Rolle spielen“, urteilte auch Nathalie Singer, Professorin für Medienkunst („Experimentelles Radio“) an der Bauhaus Universität Weimar. Selbst wenn Journalismus künftig spielerischere Formen annehme und Wissen beispielsweise über informative Computerspiele verbreiten helfe – ja selbst, wenn er in der Welt der Spiele aufgehen werde, „muss das vermittelte Wissen recherchiert werden“. Sie sehe „keinen Widerspruch“ zwischen neuen Medien und Qualitätsanspruch.

Mit der Frage, was eigentlich mediale Öffentlichkeit sei, und woran sich die Qualität öffentlicher Debatten messe, beschäftigte sich Marian Adolf, Professor für Medienkultur an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Aus seiner Sicht krankt die Diskussion über diese Fragen an verhärteten Fronten: auf der einen Seite jene, die Öffentlichkeit als offenes Forum sehen und es schon löblich finden, „dass immer mehr Menschen Gehör finden“; ihnen gegenüber solche, denen „die klassische politische Debatte als Maßstab“ diene, „an dem sich das meiste, was uns im Netz begegnet, nicht messen lassen kann“. In Wahrheit aber verstelle diese schlichte Gegenüberstellung „die eigentliche, spannende Entwicklung“, wie sie ein aktueller Fall zeige: nämlich die überraschende Zusammenarbeit der Enthüllungsplattform WikiLeaks mit Qualitätsmedien aus aller Welt beim Veröffentlichen von über 250.000 Dokumenten von US-Botschaften über diverse Regierungen im Herbst 2010 („Cablegate“). „Das war das größte Kompliment, das die Netzgemeinde dem Journalismus machen konnte“, befand Adolf. Die Netzkommunikation werde zur „Fundgrube der klassischen Medien, die weiterhin den unverzichtbaren Flaschenhals der Öffentlichkeit darstellen“.

Für die Politik sind die neuen Medien und ihre Möglichkeiten der direkten Kommunikation mit potenziellen Wählern „sicher eine große Chance“, ist Staatsminister Axel Wintermeyer überzeugt. Der Chef der Hessischen Staatskanzlei setzt darauf, die politische Teilhabe der Menschen zwischen den Wahlen zu fördern – zum Beispiel durch einen Twitter- und Facebook-Kanal oder den Online-Schwatz mit dem Ministerpräsidenten. Die Hürden der politischen Teilhabe auf diesen etwas anonymeren Wegen seinen „für bestimmte Menschen niedriger, als in die Bürgersprechstunde zu kommen“, fügte der CDU-Politiker hinzu.

Über die zunehmende und nahezu unerforschliche Macht von Google, Facebook und Konsorten sprach Markus Beckedahl, der Gründer des medienkritischen Blogs „netzpolitik.org“, in seinem Kurzvortrag über die „Industrialisierung des Denkens“ durch große Unternehmen, die alle möglichen Informationen über Konsumenten sammeln. „Wir sollten uns als Gesellschaft Gedanken darüber machen, ob wir uns von privatisierten Öffentlichkeiten abhängig machen wollen“, riet das Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestags „Internet und digitale Gesellschaft“.

Stattdessen warb Beckedahl dafür, „dezentrale Öffentlichkeiten zu schaffen, sonst ist am Ende unsere ganze Gesellschaft von den Allgemeinen Geschäftsbedingungen einschlägiger Unternehmen und ihrer Algorithmen abhängig“. In einer solchen Gesellschaft „möchte ich nicht leben“, fügte der Blogger hinzu. Dringend sei mehr Medienkompetenz für möglichst viele Menschen anzustreben – gerade auch für ältere: „Die werden oft links liegen gelassen.“

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LPR Hessen
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Wilhelmshöher Allee 262
34131 Kassel
gez. Prof. Wolfgang Thaenert
Direktor LPR Hessen

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