Archiv 2009 „Netz-Gesellschaft”
Worauf sich die Landesmedienanstalt einzustellen hat
Wolfgang Thaenert
Direktor LPR Hessen
I.
Das deutsche Privatfernsehen wird 25, die LPR Hessen 20 Jahre alt. Ein guter Anlass, auf die bewältigte Wegstrecke zurückzuschauen und Bilanz zu ziehen. Die LPR hat daher für Hessen einen schriftlichen Rückblick vorbereitet und wird Ihnen, verehrte Wegbegleiter und Gäste, heute Abend Gelegenheit zu Erinnerung und persönlichem Austausch geben. Am Nachmittag wollen wir die Gemeinsamkeit mit Ihnen für den spannenderen Teil eines Jubiläums nutzen; wir wollen einen Blick in die Zukunft werfen!
Wir stecken mitten im Umbruch unserer Medienlandschaft, das Wort Revolution erscheint mir nicht zu groß dafür. Die gegenwärtige Entwicklung greift tief in unsere Arbeits- und Lebenswelt ein und verändert unsere Art zu kommunizieren, uns zu organisieren, zu arbeiten, zu denken und zu handeln radikal.
Das ist aus meiner Sicht weitaus radikaler als das, was Mitte der 80er Jahre geschah, als der private Rundfunk hierzulande die Bühne betrat und zu einer beachtlichen Erfolgsgeschichte wurde. Heute stehen nicht mehr die privaten Rundfunkangebote über Antenne, Kabel und Satellit für neue audiovisuelle Medien. Für neue Medien steht heute das Web 2.0; und das hat längst das Medienangebot und die Mediennutzung gewaltig verändert.
Ein 50-Jähriger könnte feststellen, dass in seiner bisherigen Lebensspanne mehr Informationen publiziert worden sind als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor. Dieser Satz ist richtig, aber er bezieht sich nicht auf das Jahr 2009, sondern auf das Jahr 1523. Im Jahrhundert zuvor hatte Johannes Gutenberg den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden – nicht weit von hier, in Mainz – und nichts weniger als eine Medien- und gesellschaftliche Revolution ausgelöst: Reformation, Humanismus, Alphabetisierung.
Und heute: Zu keiner Zeit waren mehr Informationen verfügbar und zugänglich als heute. Und niemals zuvor bestanden mehr Möglichkeiten, sich einzubringen in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Geschehen. Und niemals zuvor waren Reaktionen so prompt und unmittelbar möglich.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist eine Generation mit dem Internet aufgewachsen. Diese Digital Natives kehren den traditionellen Massenkommunikationsmitteln wie Presse, Radio und TV zunehmend den Rücken zu; ihre Kommunikationswelt ist das Web 2.0. Und auch die Älteren ziehen nach und haben das Netz für sich entdeckt.
Daraus folgt: Die Werbegelder verteilen sich neu. Die Erträge aus der online-Werbung übersteigen nach kurzer Zeit die der guten alten Hörfunkwerbung.
Damit verschieben sich im Wettbewerb um Aufmerksamkeit, Akzeptanz und Finanzierung der medialen Angebote die Gewichte. Und die Einflussfaktoren auf Nutzungsgewohnheiten, Angebotsbreite und Qualität der Inhalte. Die Grenzen zwischen klassischer Massenkommunikation und traditioneller Individualkommunikation verschwimmen. Hybride Medien- und Nutzungsformen bestimmen das Bild.
An dieser Entwicklung kann eine Landesmedienanstalt, zumal wenn Sie den Zusatz „für neue Medien“ im Namen trägt, nicht vorbeisehen. Den Wandel der Medien konstatieren heißt, die Frage nach der Anpassung der Medienordnung zu stellen.
II.
Eine Medienordnung setzt sich aus vielen Bestandteilen zusammen.
1.
Beginnen wir mit dem ersten, dem vornehmsten Ziel jeder Medienregulierung: der Förderung vielfältiger Angebote für jeden Bürger.
Rundfunk hat – wie das Bundesverfassungsgericht bereits im ersten Rundfunkurteil feststellte – eine besondere Bedeutung für den Meinungsbildungs- und den demokratischen Willensbildungsprozess. Nur informierte Bürger sind politisch mündige Bürger. Daher galt es bisher, Vorsorge für einen offenen Zugang der Bürger zu einem vielfältigen Rundfunkangebot zu treffen. In der dualen Rundfunkordnung war die Sorge der Landesmedienanstalten auf eine möglichst breite publizistische Ergänzung der öffentlich-rechtlichen Grundversorgung gerichtet.
Wenn das Netz die klassischen Massenkommunikationsmittel in Sachen Information und politischer Meinungsbildung jedenfalls teilweise ablöst, wer sorgt dann wie für ein umfassendes und verlässliches journalistisches Angebot? Oder werden die Digital Natives in ihrem Bemühen, in der Tiefe des Netzes den Durchblick nicht zu verlieren, auf sich allein gestellt sein wie Perlentaucher? Konkret: Bedarf die Vielzahl der uns offen stehenden Wege im Netz Hilfen zur Navigation und Auffindbarkeit oder überlassen wir diese Google und anderen? Auf welche Weise verständigt sich die Gesellschaft künftig? Wie kommt ein gesellschaftlicher Konsens zustande, wenn nicht mehr über Massenmedien?
Wenn der Zugang zum Netz ab heute zur unerlässlichen Kommunikationsausstattung des mündigen Bürgers gehört: Wer sorgt dann wie dafür, dass alle Bürger auch barrierefreien Zugang zum schnellen Internet erhalten, gleich ob sie in Ballungsräumen oder ländlichen Regionen wohnen? Können wir den Erklärungen der Mobilfunkbetreiber vertrauen, sie würden die sogenannte digitale Dividende der Rundfunkfrequenzen primär zur besseren Breitbandversorgung der un- bzw. unterversorgten weißen Flecken nutzen? Ein Business-Modell scheint wenig realistisch. Mehr Chancen räume ich dem Aufbau eines leistungsfähigen Multimedianetzes für Internet und gemeinwohlorientierten Rundfunk ein.
Allerdings: Wer bestimmt über Ausbau und Belegung? Die Länder stehen nicht allein vor einer Infrastrukturaufgabe, um die Spaltung der „Informations“gesellschaft in Digital Natives und Ahnungslose zu verhindern. Sie haben auch den diskriminierungsfreien Zugang der Inhalteanbieter sicherzustellen.
2.
Gehen wir zu Zweitens und damit zum Inhalt des Web 2.0 über: Wie garantiere ich Überlebenschancen für Kreatives und Wertvolles im Überangebot des Netzes?
Angesprochen ist das Recht des geistigen Eigentums. Es sichert die Existenz der Inhalteanbieter und damit die Netzattraktivität. „Wer sich Inhalte nichts mehr kosten lässt, verarmt geistig“, formulierte Miriam Meckel1 auf der diesjährigen Buchmesse. Die Gesellschaft brauche hauptberufliche Kreativität und Produktivität von Musikern, Schriftstellern und Journalisten, um sich verstehen und verständigen zu können (Handelsblatt vom 16.10.2009).
3.
Drittens: Wie lassen sich Gewalt im Netz, Rechtsradikalismus, Kinderpornographie, Cyberbullying und Cybermobbing (besser) eindämmen? Mit vereinheitlichten Bestimmungen und gebündelten Zuständigkeiten nicht nur im Jugendmedienschutz haben die Länder der Konvergenz der Medien Rechnung getragen. Das war weitsichtig. Die netzgerechte – zunächst auf die Kommunikation mit Anbietern und Usern ausgerichtete – Interventionsstrategie der Landesmedienanstalten und von jugendschutz.net sowie die Konzentration auf die Verfolgung gravierender Gesetzesverstöße zeigen durchaus Erfolge. Auf dem Feld des präventiven Jugendmedienschutzes kommt der Förderung der Medienkompetenzvermittlung als flankierende Maßnahme wachsende Bedeutung zu.
4.
Wenden wir uns schließlich und viertens dem Nutzer zu: Wie schützt sich der User vor der Neugier der Netzgemeinde und den wachsenden Ausforschungsmöglichkeiten des Netzes? Die Datenpanne bei StudiVZ belegt aktuell das Risiko für die informationelle Selbstbestimmung. Hinzu kommt: Anders als der Mensch, vergisst das Netz bekanntlich nichts. Da werden Bilder von der feuchtfröhlichen Abiturfeier schnell zum Einstellungshindernis. Gefahren für die Privatsphäre gehen durchaus nicht nur vom Sicherheitsbestreben des Staates aus, sondern vom fahrlässigen Umgang mit eigenen Daten und damit vom User selbst, aber auch vom neugierigen Nachbarn oder Arbeitgeber.
III.
Zu all diesen Fragen fehlen durchgreifende und umfassende Lösungen. Die bekannten Regulierungsmechanismen – vor allem des Rundfunkrechts – erweisen sich nur begrenzt als wirksam. Anders als bei Rundfunk und der Presse finden wir nicht mehr einen verantwortlichen Sender und eine Vielzahl von Empfängern vor. Vielmehr bestimmt das Miteinander zunächst nicht bekannter Inhalteproduzenten, Host- und Accessprovider das Web 2.0. Der Grundsatz, dass auch im Netz untersagt ist, was im realen Leben verboten ist, hilft in der Telemedienaufsicht nur dann, wenn sie den richtigen Adressaten kennt. Ihn entweder identifizierbar zu machen oder über Selbstkontroll- und Netz-Etiketteregeln von weiterem gesetzeswidrigem Handeln auszuschließen, gehört zu den ordnungsrechtlichen Herausforderungen.
Auch im Urheberrecht suchen wir nach neuen Lösungsansätzen, die weder den interessierten Rechercheur vor technische, finanzielle und juristische Hürden stellt noch den Inhalteproduzenten „enteignet“.
IV.
Aber es geht nicht nur um die Medienordnung für die Nutzung des Netzes. Auch die Konsequenzen für bestehende Medienangebote, die aus einer wachsenden Bedeutung des Netzes folgen, dürfen nicht aus dem Blickfeld geraten. Das schnelle Anwachsen der Onlinewerbung gegenüber klassischer Werbung deutet auf erhebliche Verschiebungen der Kräfteverhältnisse hin. Nach unserer Verfassung ist die Existenzsicherung einer vielfältigen Presse und eines vielfältigen audiovisuellen Angebotes Aufgabe der Medienordnung. Muss sie eines Tages das Überleben von Presse und Rundfunk finanziell garantieren oder ihnen weitere Betätigungsfelder eröffnen? Vielleicht wird eines Tages aus dem Drei-Stufen-Test für die Onlinebetätigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks der Drei-Medien-Test für Presse, Rundfunk und Online.
Aus den USA lesen wir erste Erfahrungsberichte über stiftungsfinanzierten gemeinnützigen und nicht gewinnorientierten Pressejournalismus und community funded reporting. Die Existenzbedrohung der Presse und die Spendenkultur in den USA mögen eine eins-zu-eins-Übertragung derartiger Modelle verbieten. In Großbritannien wird über eine Beteiligung der Privaten an den Rundfunkgebühren der BBC diskutiert. Auch insoweit kann ich mir eine Übertragung auf das duale Rundfunksystem in Deutschland kaum vorstellen. Beide Beispiele zeigen aber das Ausmaß der Bedrohung traditioneller Medien und belegen die Notwendigkeit zu handeln.
V.
Wir haben angesichts des Wandels, der Umgestaltung der Medienlandschaft, in der wir stecken, viele Fragen, aber wenige Antworten. Wohin die Reise geht, wir wissen es jedenfalls nicht genau. Wir wissen nur: es ist eine Reise, für die in besonderem Maß gilt, was Goethe schon am Ende des 18. Jahrhunderts über Reisen sagte:
„Die Reise gleicht einem Spiel.
Es ist immer Gewinn und Verlust dabei
und meist von der unerwarteten Seite.“
Deshalb haben wir Sie eingeladen anlässlich unseres 20jährigen Bestehens zum lpr-forum-medienzukunft, das sich mit der Netzgesellschaft befasst. Ich bin dankbar, dass wir hochrangige Experten für diese Diskussion gewinnen konnten. Ich freue mich, ganz in Goethes Sinn auf unerwartete Erkenntnisse und darüber, dass Sie so zahlreich zu unserem lpr-forum-medienzukunft in den Westhafenpier gekommen sind.
4. November 2009, Frankfurt am Main
1 Prof. Dr. Miriam Meckel ist geschäftsführende Direktorin des Instituts für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen, Schweiz.